Julia Arztroman Band 62
damals, als ich Francesca verlor.“
Gina hörte ein Rauschen in ihrem Kopf. Es war so laut, dass es alles andere übertönte. Sie sah, dass Marco die Lippen bewegte, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Und als er sie zurück ins Wohnzimmer führte und sanft auf die Couch drückte, protestierte sie nicht.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie küssen würde, und erst recht nicht mit dieser vertrauten Erregung, die dabei in ihr aufgeflammt war. Der Augenblick, als ihre Lippen sich berührten, hatte sie in die Zeit zurückversetzt, als Marco ihre ganze Welt gewesen war … Als sie geglaubt hatte, dass er ebenso empfand – nur war es nicht so gewesen. Es konnte nicht so gewesen sein, wenn sie daran dachte, wie er über diese andere Frau gesprochen hatte.
„Hier, trink das.“
Er drückte ihr ein Glas in die Hand. Gina nahm gehorsam einen Schluck und musste husten, als der scharfe Alkohol durch ihre Kehle rann. Marco wollte ihr auf den Rücken klopfen, doch sie wich rasch zur Seite. Im Moment konnte sie seine Berührung nicht ertragen. Sie fürchtete, ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung zu verlieren, und das konnte sie sich jetzt nicht leisten. Die Tatsache, dass es da die ganze Zeit eine andere Frau gegeben hatte, die ihm offenbar alles bedeutet hatte, änderte ihre gesamte Sicht der Dinge. Es erforderte ihren ganzen Mut, die Frage zu stellen, aber sie musste es wissen.
„Wer ist Francesca?“
Er starrte in sein Glas, und als er sie dann ansah, war da eine unendliche Leere in seinem Blick. „Francesca ist … war meine Frau.“
„Deine Frau!“
Gina war sichtlich schockiert. Marco wusste, dass er ihr jetzt nichts mehr verschweigen durfte. „Ja, sie starb vor vier Jahren.“
„Sie starb? War sie denn krank?“
Marco antwortete nicht gleich. Wie immer, wenn er über Francesca sprach, überwältigte ihn das vertraute Gefühl der Trauer. Doch diesmal war es irgendwie anders … Er räusperte sich. „Nein. Es war ein Unfall. Sie wurde von einem Wagen erfasst und gegen eine Mauer geschleudert, als der Fahrer versuchte, einem Kind auszuweichen. Sie war sofort tot.“
„Wie furchtbar. Ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ Gina verstummte. Sie suchte offenbar nach tröstenden Worten.
„Da gibt es nichts zu sagen, Gina. Es war einer dieser tragischen Unfälle, von denen man in der Zeitung liest, sich aber nicht vorstellen kann, dass so etwas einen jemals selbst betreffen könnte.“
„Du musst zutiefst erschüttert gewesen sein.“
„Das war ich. Es war wie ein Alptraum, aus dem man nicht erwacht. Ich brauchte sehr lange, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass Francesca nicht mehr zurückkommt.“
„Es tut mir so leid“, murmelte Gina mit Tränen in den Augen und griff nach Marcos Hand.
Dass diese Berührung in einem Moment, in dem er über die schrecklichste Zeit in seinem Leben sprach, ein so starkes Gefühl von Verbundenheit, aber auch von Erregung in ihm wachrief, traf Marco wie ein Schock. Aber er musste Gina alles erzählen, wenn er sie von seiner Aufrichtigkeit überzeugen wollte.
„Das Schlimmste war, dass es so unerwartet passierte. Wäre Francesca krank gewesen, hätte ich Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten, aber so …“ Er hielt inne und konnte nicht weitersprechen. Jeden Moment drohten sein Schmerz und seine Trauer aus ihm herauszubrechen, doch damit wollte er Gina nicht belasten. Sie war im Augenblick selbst reichlich durcheinander.
„Es war eine sehr schwere Zeit“, sagte er schließlich. „Aber ich hatte meine Arbeit, und die hat mir geholfen, das alles durchzustehen.“
„Trotzdem …“
Gina erwartete sicher, dass er weitersprach, aber er schwieg. Es ging ihm nicht um ihr Mitgefühl, sondern darum, sein damaliges Handeln zu erklären. Vielleicht würde sie dann verstehen, warum er ihre Affäre beenden musste. Und zwar nicht, weil er nichts für sie empfand, sondern weil seine Gefühle für sie zu stark geworden waren.
Sein Herz begann zu rasen, als er sich daran erinnerte, wie elend er sich damals gefühlt hatte. Er war dabei gewesen, sich in Gina zu verlieben. Gleichzeitig hatte er sich davor gefürchtet, noch einmal diese Verzweiflung durchleben zu müssen, wenn ihr wie Francesca etwas zustoßen sollte. Nur deshalb hatte er sie zurückgewiesen.
Doch wenn ihn diese Ängste wieder quälten? Was würde er dann tun? Wie könnte er sich von ihr abwenden, jetzt, da sie eine gemeinsame Tochter hatten?
Marco stand auf und ging ans Fenster.
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