Julia Arztroman Band 62
warum sie auf seine Anrufe nicht geantwortet hatte, und er drängte sie nicht. Mit der Frage nach seiner Großmutter hatte sie einen Schritt auf ihn zu getan, und das erleichterte ihn ungeheuer.
„Und wie geht es Lily?“, erkundigte er sich, während sie gemeinsam auf die Station gingen.
„Bestens. Die Windpocken sind abgeheilt, und sie tollt schon wieder fröhlich herum.“
„Ich habe sie vermisst“, sagte Marco leise.
Gina sah ihn an, und ihre Stimme wurde weicher. „Sie dich auch. Sie war richtig enttäuscht, dass du am Samstag nicht mit uns in den Park gekommen bist.“
„Wirklich?“ Er hielt Gina am Arm fest. „Es muss doch einen Weg geben, wie wir uns einigen können. Ich weiß, dass ich dich neulich verletzt habe. Das tut mir sehr leid, und ich hoffe, dass wir es vergessen können … Lily zuliebe.“
Sofort verhärtete sich Ginas Miene, und Marco wusste, dass er wieder das Falsche gesagt hatte. „Ich bin sicher, dass wir zu einer Lösung finden, wenn wir uns Mühe geben“, versetzte sie knapp. „Und jetzt entschuldige mich, ich muss los.“
Gina eilte davon und ließ ihn verzweifelter denn je zurück. Seufzend machte Marco sich auf den Weg ins Ärztezimmer, um zu erfahren, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Wenn er nur wüsste, was Gina wirklich von ihm wollte, dann könnte er darauf reagieren. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung. Wollte sie nur, dass er Lily ein guter Vater war, oder wollte sie mehr als das?
Die Möglichkeit, dass sie ihn wollte, ließ seinen Puls in die Höhe schnellen. Nein, wenn er diesen Gedanken weiter verfolgte, gäbe es kein Halten mehr. Schon jetzt schlug seine Fantasie Purzelbäume, zauberte Bilder hervor, wie wunderschön sein Leben sein könnte. Er könnte alles haben: eine Frau, die ihn liebte, eine Tochter, die von ihnen beiden vergöttert wurde, das glückliche Leben, von dem jeder träumte …
Bis alles schief ginge, natürlich.
Wieder überfielen ihn die alten Ängste, gleichzeitig drängte es ihn, seinen Gefühlen nachzugeben. Aber die Vorstellung, noch einmal eine so schmerzvolle Zeit durchzumachen, wenn irgendetwas passierte, blieb übermächtig. Er könnte es nicht ertragen, wenn er auch noch Gina verlieren würde.
Gina ging Marco den restlichen Vormittag über bewusst aus dem Weg. Vielleicht war sie zu empfindlich, aber musste er ihr ständig unter die Nase reiben, dass er nur an ihrer Tochter interessiert war? Dieser Gedanke wühlte sie derart auf, dass sie, als es Zeit für ihre Mittagspause war, nicht den Lift hinauf in die Kantine nahm, sondern zu Fuß die Treppen hochsteigen wollte, um sich abzureagieren.
Sie war gerade an der Absperrung im vierten Stock vorbeigekommen, als sie jemanden schreien hörte. Verwundert blieb sie stehen und spähte den leeren Korridor hinunter. Da die Arbeiten am Dach vorübergehend eingestellt worden waren – man wartete auf neue statische Berechnungen –, durfte dort eigentlich niemand sein. Oder doch?
Gina entschied sich, vorsichtshalber nachzusehen. Im Zickzack lief sie um Dutzende Stahlpfeiler herum, die aufgestellt worden waren, um die Decke abzustützen. Als Erstes warf sie einen Blick in die Kinderstation. Doch dort war niemand. Als sie die Tür zur Frauenchirurgie öffnete, blieb sie vor Schreck wie angewurzelt stehen. Im Flur lag ein junger Mann.
„Was ist passiert?“, rief sie und eilte zu ihm.
„Ich bin gestolpert und hab mir den Knöchel verdreht.“ Der Junge wischte sich unauffällig die Tränen ab. „Ich glaube, er ist gebrochen.“
„Lass mich mal sehen.“ Gina kniete sich hin und tastete behutsam den Knöchel ab. „Ja, das scheint mir auch so. Aber was machst du hier? Hast du die Warnschilder nicht gesehen?“
„Ich wollte mir anschauen, was mit dem Dach passiert ist“, murmelte er kleinlaut.
„Na, das hat sich ja gelohnt“, sagte Gina und stand auf. „Wir brauchen einen Rollstuhl, um dich hier rauszuholen.“
Sie rief die Aufnahme an, erklärte kurz die Situation und bat, einen Pfleger zu schicken. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu. „Ich heiße übrigens Gina. Und du?“
„Richard. Richard Petty. Mein Vater arbeitet hier in der Notaufnahme. Kennen Sie ihn?“
Gina nickte und wollte gerade antworten, als sie plötzlich ein rumpelndes Geräusch über sich hörte. Erschrocken sah sie hoch. Der Stahlpfeiler neben ihnen rutschte langsam aus seiner Halterung.
„Pass auf!“, schrie Gina, als sich plötzlich ein Teil der Decke absenkte.
Sie
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