Julia Arztroman Band 62
sagte: „Es war ein langer Tag für ihn, Libby. Wenn du uns entschuldigst, bringe ich ihn jetzt ins Bett. Du kannst ja ein paar Zeitschriften lesen oder fernsehen, bis ich wieder runterkomme.“
Er hob den schläfrigen Jungen hoch und trug ihn die Treppe hinauf.
Libby ging währenddessen in die Küche, um dort aufzuräumen, damit Nathan das später nicht mehr tun musste. Danach würde sie schnell nach Hause gehen, solange sie ihren Entschluss, distanziert zu bleiben, noch durchhalten konnte.
Als Nathan herunterkam, war die Küche makellos sauber, und Libby saß am Tisch, um ihm eine Nachricht zu schreiben.
Mit erhobenen Brauen sah er sie an. „Wolltest du etwa flüchten, solange ich nicht in der Nähe bin?“
„Ja, so was in der Art“, gab sie unumwunden zu.
Er seufzte. „Dann tu’s eben, Libby. Ich will dich nicht aufhalten. Es wird sicher richtig lustig in der Praxis morgen, das sehe ich schon.“
„Nicht unbedingt“, erwiderte sie ruhig. „Wenn wir uns beide wie vernünftige Erwachsene benehmen.“
Sein Kiefer wirkte angespannt. „Warum sagst du es nicht einfach ganz direkt, dass du mir nie verziehen hast, was ich damals am Flughafen zu dir gesagt habe?“ Und seitdem ewig bereut habe.
Libby hatte nicht die geringste Lust, ihre innersten Gefühle auf diese Weise preiszugeben. „Das ist alles längst Vergangenheit“, meinte sie deshalb. „Ich denke nicht mehr darüber nach. Wir haben beide unser Leben weitergelebt. Also belassen wir es doch einfach dabei: Wir sind Nachbarn und arbeiten als Kollegen in der Praxis zusammen.“
Obwohl Nathan noch immer angespannt wirkte und seine Augen blitzten, klang seine Stimme gelassen. „In Ordnung. Dann sehen wir uns morgen, Libby.“ Als sie aufstand, fügte er hinzu: „Vielen Dank fürs Aufräumen. Das werde ich auch mal für dich machen, falls du mich jemals über deine Schwelle lässt.“
Ohne darauf zu reagieren, ging sie zur Tür und antwortete mit einem leichten Lächeln: „Ich hoffe, Toby fühlt sich morgen in der Schule genauso wohl wie heute.“ Damit trat sie hinaus in die zunehmende Dunkelheit. „Gute Nacht, Nathan.“
„Dir auch eine gute Nacht.“ Er blieb an der Haustür stehen und blickte ihr nach, wie sie seine Einfahrt hinunter- und ihre wieder hinaufging.
Sobald er die Tür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, ging auch er hinein. Dabei fragte er sich, ob durch die Zusammenarbeit in der Praxis wohl eher mehr oder weniger Spannungen zwischen ihnen entstehen würden.
3. KAPITEL
Am folgenden Morgen versuchte Libby, nicht auf die Uhr zu schauen, während sie auf Nathan wartete. Trotz ihrer persönlichen Vorbehalte gegen ihn wusste sie, dass er absolut zuverlässig war. So wie er auch seine Aufgabe Toby gegenüber gewissenhaft wahrnahm. Durch Nathans liebevolle Unterstützung schien der Junge sich in seiner neuen Umgebung gut einzuleben. Dennoch hätte er in seinem zarten Alter vor allem eine Mutter gebraucht. Was Nathan in dieser Hinsicht vorhatte, konnte Libby natürlich nicht sagen.
Allerdings fanden sich vermutlich bald genügend weibliche Interessentinnen, die gerne die Mutterrolle bei Toby übernehmen würden.
Libby selbst war jedenfalls keine von ihnen. Ab jetzt würde sie ihm freundlich, aber zurückhaltend begegnen. Keine Rückblicke mehr auf Dinge aus der Vergangenheit, und sei es auch nur wegen des demütigenden Gefühls, das die Erinnerung daran hervorrief. Bisher hatte das Schicksal sie in Bezug auf Männer nicht gut behandelt, und seit Ians Tod war Libby fest entschlossen, sich nie wieder einer so verletzenden Erfahrung auszusetzen.
Außerdem hatte sie ohnehin keine Zeit, an Nathan zu denken, sondern musste sich um ihre Patienten kümmern.
Als der über achtzigjährige Donald Johnson zu ihr hereinkam, erkundigte sie sich: „Was kann ich für Sie tun, Mr Johnson? Sind Sie wegen der Tests hier, zu denen ich Sie ins Krankenhaus geschickt hatte?“
„So ist es“, antwortete er.
„Das dachte ich mir. Heute Morgen habe ich einen Bericht zu dem Nierenfunktionstest bekommen, den ich angefordert hatte“, erklärte Libby. „Offenbar arbeitet eine Ihrer Nieren gar nicht mehr, und die andere, die noch recht gut funktioniert, ist nicht ganz in Ordnung.“
„Verstehe. Also eine meiner Nieren ist hinüber, und die andere macht’s nur noch so lala“, brummte er.
Lächelnd sah sie ihn an. „Die Aussichten sind nicht so düster, wie es scheint. Im Alter lassen unsere Nieren sowieso immer mehr nach, aber viele
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