Julia Arztroman Band 62
geraten schien.
Angelina, die Mutter, war eine Künstlerin, die in ihren kreativen Phasen tagelang in ihrem Atelier verschwand. Dann wurde weder eingekauft noch das chaotische alte Haus sauber gehalten, das sich in einer abgelegenen Straße am hinteren Ende des Dorfes befand.
Ihr Ehemann Malik war Mitarbeiter in der Forstverwaltung, und während Angelina ihre Auszeiten nahm, tat er sein Bestes, indem er sich so gut es ging um die beiden Kinder und den Haushalt kümmerte. Er beschwerte sich nicht allzu sehr, denn Angelina konnte fast alle ihre Werke verkaufen. Aber die ganze Familie war froh, wenn sie endlich wieder zum Vorschein kam.
Im Allgemeinen wirkten die Kinder recht robust und gesund. Vorhin hatte Malik jedoch angerufen und um einen Hausbesuch wegen der sechsjährigen Ophelia gebeten. Aufgrund ihrer Masern hatte sie jetzt hohes Fieber, fühlte sich schwindelig und beklagte sich über Ohrenschmerzen.
Als Libby ankam, stellte sie fest, dass Angelina mal wieder einen ihrer Kreativitätsschübe hatte. Und Malik bemühte sich, für sich und seine Tochter, die krank auf dem Sofa lag, ein Mittagessen zuzubereiten.
Die Untersuchung der Ohren zeigte geschwollene Trommelfelle. Auf die Frage, wo es denn genau wehtat, deutete die Kleine jammernd auf die Stelle zwischen Wangenknochen und Innenohr.
„Ich vermute, Ophelia hat eine Innenohrentzündung“, sagte Libby zu Malik. „Das ist eine Infektion, die den Gleichgewichtssinn beeinträchtigt und ziemlich schmerzhaft ist. Sie kann als Begleiterscheinung von Masern auftreten, und es dauert eine Weile, bis sie wieder abheilt. Ihre Tochter braucht auf jeden Fall viel Ruhe. Ich werde ihr ein niedrig dosiertes Antihistamin und ein für Kinder geeignetes Schmerzmittel verschreiben.“
Sie lächelte das kleine Mädchen an. „Wie ich sehe, ist der Masernausschlag verschwunden. Es ist einfach Pech, dass Ophelia als Folge davon diese Ohrenentzündung bekommen hat. Rufen Sie auf jeden Fall in der Praxis an, wenn noch weitere Probleme auftauchen, Malik. Dann komme ich sofort zu Ihnen raus.“ Sie schaute sich in dem unaufgeräumten Wohnzimmer um. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Angelina nicht zur Verfügung steht?“
„Allerdings“, antwortete er missmutig. „Sie hat gerade eine ihrer künstlerischen Anwandlungen. Das kann noch Tage oder Wochen dauern.“
Libby kam ein Bild seiner Frau in den Sinn, wie sie diese zuletzt mit einem goldenen Kaftan bekleidet und überladen mit Perlen und Armreifen gesehen hatte. Sie musste ein Lächeln verbergen. Angelina hatte weniger wie eine Künstlerin, sondern wie eine Wahrsagerin ausgesehen.
Die übrigen Hausbesuche waren auch bald erledigt, und auf dem Rückweg zur Praxis hielt Libby für einen Augenblick am See an, der nicht weit von der Praxis entfernt lag. Wie immer war sie gebannt von dessen Schönheit. Die weißen Segel der Jachten hoben sich klar gegen das ruhige Wasser ab, und auf einer baumbestandenen Insel mitten im See konnte man deutlich ein Haus erkennen, das aus dem hiesigen hellgrauen Stein gebaut war.
Oberhalb des Sees ragten die Berge in ihrer schroffen Pracht empor, aber alle hier in der Gegend wussten, wie gefährlich sie auch sein konnten. Manchmal forderten sie einen hohen Preis von denen, die sie so gern bestiegen. Der Bergrettungsdienst war das ganze Jahr über gut beschäftigt mit denjenigen, die auf den Gipfeln in schlechtes Wetter gerieten. Oder anderen, denen es an der Erfahrung fehlte, sich dort sicher zu bewegen.
Früher hatte Nathan bei der Bergrettung mitgearbeitet. Als erfahrener Kletterer hatte man ihn häufig gerufen, wenn es nötig war. Aber nun, mit Toby, konnte Libby sich nicht vorstellen, dass er das wieder tun würde. Es war oft sehr riskant, verletzte Bergsteiger oder Kletterer in Sicherheit zu bringen. Und der arme Toby hatte ja schon seine Eltern verloren.
Libby fuhr weiter, um Nathan abzulösen, der den Kleinen gleich von der Schule abholen wollte.
„Es ist schön, wieder in der Praxis zu sein“, meinte er zu ihr. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das alles vermisst habe, als ich weg war.“
Skeptisch sah sie ihn an.
„Du glaubst mir nicht?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Immerhin bist du von Afrika nie mehr zurückgekommen, und du wolltest ja auch unbedingt dorthin.“
In diesem Moment hätte er ihr erzählen können, dass er sehr wohl einmal zurückgekommen war, aber niemand davon gewusst hatte. Erneut tauchte die Erinnerung daran auf, wie
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