JULIA COLLECTION Band 10
begegneten sich. Mum weiß Bescheid, dachte Rico. Sie wusste, dass er Renée liebte.
Jetzt tätschelte sie ihm lächelnd den Arm. „Geh ruhig zu ihr, bis dein Vater untergebracht ist. Und dann kommt ihr drei und bleibt noch ein bisschen bei ihm, ja?“
„Ja, Mum.“ Rico gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich habe dich lieb, Mum.“ Ein wenig lauter und an seinen Vater gewandt fügte er hinzu: „Ich bin gleich wieder da, Dad. Und du, Katrina, mach dir keine Sorgen wegen Gina. Sie hat es gut bei Renée.“
Teresa blickte ihrem Sohn nach und war einen Moment richtig traurig. Diesmal habe ich ihn wirklich verloren, dachte sie, jetzt gehört er einer anderen.
„Teresa“, sagte da ihr Mann ungewöhnlich flehentlich. Obwohl sie jetzt schon über fünfzig Jahre verheiratet waren, hatte sie ihn noch nie mit dieser Furcht im Blick gesehen. Sie eilte an seine Seite und nahm seine Hand, die sich ganz kalt anfühlte.
„Es ist alles in Ordnung, Frederico. Ich bin ja da. Und dir geht es bald wieder besser. Dafür sorge ich schon.“
Erst wirkte er erstaunt und dann sehr zufrieden. „Ich weiß, Teresa.“ Sich an seine Tochter wendend, fuhr er fort: „Deine Mutter ist eine gute Frau, eine sehr gute.“
So gut nun auch wieder nicht, dachte Teresa. Sie war nur eine dumme, egoistische alte mamma, die endlich erwachsen geworden war.
13. KAPITEL
Als Rico ins Wartezimmer kam, saß Renée mit Gina, die glücklicherweise ganz friedlich war, in einer Ecke des Raumes, wobei die Kleine Renée mit offenem Mund ansah. Beim Näherkommen hörte Rico, dass Renée ihr eine Geschichte erzählte.
„Und der große böse Wolf zog Großmutters Nachthemd an und sprang in ihr Bett, kurz bevor Rotkäppchen …“ Sobald Renée Rico sah, hörte sie auf zu erzählen, und die Kleine protestierte sofort. Bevor das Kind zu weinen anfing, nahm Rico es auf den Arm und setzte sich neben Renée. „Wenn du nicht lieb bist, Gina, erzählt Renée nicht weiter.“ Sofort hörte die Kleine auf zu quengeln. „Bitte fahr fort, Renée“, meinte Rico dann. „Rotkäppchen gehört zu meinen Lieblingsmärchen.“
„Dass du Geschichten magst, in denen ein großer böser Wolf die Hauptrolle spielt, habe ich mir schon gedacht“, spottete Renée, ehe sie weitermachte.
Rico lachte und war beeindruckt, wie gut Renée erzählen konnte. Dummerweise ging es Gina da genauso, und sobald Renée mit Rotkäppchen fertig war, wollte sie ein neues Märchen hören. Ohne zu zögern, begann Renée mit Die drei kleinen Schweinchen, deren Abenteuer sie genauso flüssig wiedergab wie Rotkäppchens Besuch bei der Großmutter. Glücklicherweise wurde Gina dabei langsam müde und schlief ein.
Als Renée diesmal aufhörte zu erzählen, protestierte Rico: „Ich will das Ende hören.“
„Meinst du die Stelle, an der der Wolf seine Abreibung bekommt?“
„Genau.“
„Hm, wie schade, dass es im wahren Leben nicht auch so zugeht. Ich kenne einen großen bösen Wolf, dem eine Abreibung guttun würde.“
„Autsch, das hat gesessen! Aber jetzt mal im Ernst, Renée, wieso kannst du so gut Märchen erzählen?“
„Weil ich als Teenager meinen Cousins und Cousinen jeden Abend vorgelesen habe.“
„Und wieso?“
„Mit zwölf bin ich zu meiner Tante und meinem Onkel gekommen.“
„Und wieso?“
Sie seufzte. „Du stellst aber ganz schön viele Fragen.“
„Weil du mich interessierst.“
„Ich weiß genau, was dich an mir interessiert, Rico Mandretti. Aber ich gehe davon aus, dass du deinen Appetit hier nicht stillen kannst, deshalb verlegst du dich darauf, deine Neugier zu befriedigen. Nun gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Mit zwölf bin ich Waise geworden. Meine Eltern und meine jüngere Schwester sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich hatte das Glück – oder das Pech –, dass ich an jenem Tag nicht mit im Wagen saß, sondern bei meinem Onkel und meiner Tante war. Danach haben sie mich bei sich aufgenommen, bis ich von der Schule abging und mich nach Sydney aufmachte, um Arbeit zu finden.“
„Aber du bist nicht glücklich bei ihnen gewesen, stimmt’s?“
Renée zuckte die Schultern. „Sie haben, so gut es ging, für mich gesorgt. Ich meine … schließlich bin ich nicht ihre Tochter, nur ihre Nichte. Außerdem ist meine Tante nicht gerade der mütterliche Typ. Kein Mensch weiß, warum sie ein Baby nach dem anderen bekommen hat. Ich weiß nur, dass sie sehr froh war, in mir einen Babysitter zu haben, der rund um die Uhr verfügbar war.
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