JULIA COLLECTION Band 12
schicken. Sie erinnerte sich lebhaft, wie ihre Mutter sich immer genau ans Buch gehalten hatte, während ihr Vater jedes Mal alles ausgeschmückt und seine eigene Version der Geschichte erfunden hatte.
Als Gaylynn das Inhaltsverzeichnis überflog, entdeckte sie viele ihrer Lieblingsmärchen. „Die schlaue Flasche“ gehörte dazu. Aber heute entschied sie sich für „Die goldene Birne“. Da ging es um einen kranken König, seine vier Söhne und einen Zauberer, der ihnen riet, nach der goldenen Birne zu suchen, die den König heilen würde.
Die Geschichte kam sehr gut an. Danach suchte Gaylynn ein Märchen der Cherokee aus, „Warum das Opossum einen kahlen Schwanz hat“, die in dem Buch von Hunter enthalten war. Er hatte ihr diese Story am Abend zuvor vorgelesen, und sie erinnerte sich nun verträumt daran, wie sie sich hinterher geliebt hatten, vor dem Kamin in seiner Hütte.
„Fangen Sie nicht an zu lesen?“ Wieder zog eins der Kinder an ihrem Rock.
„Doch, natürlich.“ Sie begann mit der Geschichte, in der es um die Gefahren der Eitelkeit ging. „In fast vergessenen Tagen hatte das Opossum einen wunderschönen, buschigen Schwanz, auf den es sehr stolz war. Es kämmte ihn jeden Morgen und gab damit an. So sehr, dass das Kaninchen, das keinen Schwanz besaß, weil der Bär ihn abgerissen hatte, sehr eifersüchtig wurde. Er beschloss, dem Opossum einen Streich zu spielen.“
Die Geschichte war kurz und hatte gerade die richtige Länge für Sechsjährige. Alle lachten, als Gaylynn den Schluss vorlas. „Und hinterher war das Opossum so verblüfft und beschämt, dass es kein Wort sagen konnte. Stattdessen rollte es sich hilflos auf dem Boden herum und grinste, wie Opossums das heute noch tun, wenn sie überrascht sind.“
Nachdem Gaylynn jedem der Kinder ein Buch ausgehändigt hatte, legte sie die Unterlagen in den Holzkasten, in dem sie schon seit der ursprünglichen Eröffnung der Bücherei aufgehoben wurden. Sie hatte bereits achtzehn Ausleihkarten auf der uralten Remington-Schreibmaschine getippt, auf der der Buchstabe Z fehlte. Glücklicherweise hatte niemand ein Z im Namen, sodass sie auch so zurechtkam.
Es gab kein Geld für neue Bücher, aber der Bestand war gut, besonders der an Kinderbüchern. Gaylynn beschloss, sich um Stiftungsgelder zu bewerben. Das kam auf die ständig wachsende Liste von Dingen, die sie tun wollte.
Sobald die Kinder fort waren, war Gaylynn allein im Haus … abgesehen von Boone und Stella, die nur Augen füreinander hatten. Ma Battle hatte angekündigt, sie würde später vorbeikommen, um sich mit Gaylynn über die Möglichkeit zu unterhalten, in der Bücherei Unterricht für Analphabeten abzuhalten. Gaylynn wollte ihr dann auch von der Bewerbung um Stiftungsgelder erzählen. So würden sie die Bibliothek vielleicht offen halten können.
Als Gaylynn nach dem Buch aus ihrer Kindheit griff, fiel ein Stück Papier heraus. Anscheinend hatte es hinten drin gelegen. Darauf stand: „Angst lässt einen Menschen verarmen, aber es kann ihn bereichern, Leid zu akzeptieren.“
Das alte Roma-Sprichwort ging Gaylynn unter die Haut, passte es doch genau auf sie. Als sie aus Chicago geflüchtet war, hatte ihre Angst sie psychisch arm gemacht.
Die einfache Schönheit und ständige Gegenwart der Berge hatten ihre Seele erfrischt, und sie hatte Frieden gefunden. Allmählich hatte sie Duanes Tod akzeptieren können, ohne sich schuldig zu fühlen.
„Angst lässt einen Menschen verarmen“, flüsterte sie und strich mit den Fingerspitzen über die Worte. Wie war das Papier in das Buch geraten?
Unwillkürlich griff sie nach dem Medaillon, das sie inzwischen jeden Tag trug. Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie dieses Schmuckstück ihr Mut gemacht hatte, Hunter zu verführen. Am Ende war dann allerdings unklar gewesen, wer wen verführt hatte. Es war ein gegenseitiger Ausdruck von Leidenschaft gewesen.
Und was Gaylynn anging, auch von Liebe.
Sie blickte zu Boone und Stella hinüber, die Sachbücher in die Regale stellten, aber dabei mehr miteinander flüsterten als arbeiteten.
„Boone Twitty, mach, dass du rauskommst!“, hörte Gaylynn plötzlich Floyd so laut brüllen, dass sogar Bo Regard, der auf der Türschwelle lag, zusammenzuckte und ins Haus flüchtete.
Gaylynn stand auf, um nachzusehen, worum es ging. Sie brauchte nicht lange zu warten. Floyd kam hereingerast. Oder zumindest war das seine Absicht. Ein anderer Mann, der ebenso breit war wie er, versuchte das
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