JULIA COLLECTION Band 12
von Michael weg und stellte dabei fest, dass ihr das von Mal zu Mal schwerer fiel. Michael ging in die Wohnung und goss sich Kaffee aus einer Kanne ein, die aussah, als stammte sie aus dem Zweiten Weltkrieg. Während er trank, beobachtete er, wie misstrauisch die Jugendlichen ihn musterten. Jeder Blick enthielt eine Warnung. Es war eindrucksvoll, wie diese Kids Brenda beschützten.
Während sie draußen war, nutzte er die Gelegenheit, ein paar Informationen über seine neue Angestellte zu bekommen. „Du heißt Juan?“, fragte er den Jungen mit der Baseballmütze.
„Richtig. Wollen Sie was von mir?“
„Wieso glaubt ihr, dass Brenda beschützt werden muss?“
„Weil sie der Mutter-Teresa-Typ ist“, antwortete Juan nach kurzem Zögern. „Sie ist einfach zu gutmütig. Sie ist schon mal verletzt worden.“
„Von wem?“, wollte Michael wissen.
Juan zuckte mit den Schultern. „Das sagt sie nicht, und ich frage auch nicht. Ich weiß nur, dass alles anders ist, seit sie als freiwillige Helferin im Zentrum arbeitet. Sie versteht uns.“
„Was für ein Zentrum?“
„Das St.-Geralds-Jugendzentrum. Zwei Blocks von hier entfernt. Das bedeutet, dass wir nahe genug sind, um Sie im Auge zu behalten.“
„Sehe ich aus, als wäre ich beeindruckt?“, konterte Michael.
„Sie sehen gemein aus, aber Brenda hat uns erklärt, dass Sie das nicht wirklich sind.“
„Was hat sie denn gesagt, was ich bin?“
„Einsam.“
Michael stellte seine Kaffeetasse weg, warf Juan einen grimmigen Blick zu und ging. Das ging wirklich zu weit. Er war gern allein. Und ganz bestimmt hatte er es nicht nötig, dass so eine Rotznase ihm sagte, was mit seinem Leben nicht stimmte.
Sobald Michael wieder in seinem Apartment war, schaltete er seinen Computer ein und überprüfte Brenda. Er erfuhr, dass sie dreißig Jahre alt war und keinen zweiten Vornamen hatte. Vorbestraft war sie nicht. Der Lieferwagen draußen gehörte ihr. Sie hatte nur eine Kreditkarte und zahlte immer noch eine hohe Krankenhausrechnung ab. Offenbar war sie vor zwei Jahren operiert worden.
Sie hatte eine Menge verschiedene Jobs gehabt, hatte Hamburger gebraten, in einer Kneipe gekellnert und in einem Heimwerkerladen gearbeitet. In ihrem Psychologiestudium war sie schon weit fortgeschritten, aber da sie immer nur einzelne Kurse belegte, war sie länger als Studentin an der Universität, als manche Leute Präsident waren. Zurzeit studierte sie gerade nicht, doch sie war für das nächste Semester eingeschrieben, das Mitte Januar begann.
Es gab keine Hinweise auf lebende Verwandte, und sie war nie verheiratet gewesen. Michael überlegte, warum das so sein mochte. Sie war so liebevoll, dass sie eine wundervolle Ehefrau abgeben würde. Mit Kindern konnte sie auch großartig umgehen. Und sie war klug. Sie ließ sich nicht so leicht reinlegen. Noch dazu hatte sie die größten blauen Augen, die er je gesehen hatte.
Ja, es war richtig gewesen, sie einzustellen. Es war eine weise und logische Entscheidung gewesen.
„Sind Sie verrückt?“, brüllte Michael Brenda eine knappe Woche später an.
„Ich wollte nur …“
„Ich sehe, was Sie tun. Sie versuchen sich den Hals zu brechen. Das Ding ist viel zu schwer für Sie.“
„Ich trage es ja nicht. Ich habe die Hebelwirkung genutzt …“
„Tun Sie das nie wieder.“ Er schob den riesigen Blumentopf für sie in den Flur. „Warum müssen Sie den überhaupt wegrücken?“
„Um an den Heizkörper dahinter zu kommen. Die Mieter haben sich alle darüber beschwert, dass die Heizung so laute Geräusche von sich gibt. Das liegt daran, dass das gesamte System entlüftet werden musste. Dieser Heizkörper ist der letzte. Ich muss …“
Michael bemerkte, wie ihre Augen leuchteten. Hatte er je eine Frau mit einem so ausdrucksvollen Gesicht gekannt? Er konnte sich nicht erinnern. Und dabei ging es im Moment bei ihrer Begeisterung nur um die Heizung.
Heute trug sie ein weites Sweatshirt. Die Farbe passte zu ihren blauen Augen. Schwarze Leggings umhüllten ihre Beine und betonten jede Kurve.
„Haben Sie sich gut eingelebt?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte. Die Mieter schwärmten alle von ihr. Niemand hatte mehr einen Protestmarsch veranstaltet, und es hatte auch keine weiteren wütenden Anrufe mitten in der Nacht gegeben. So hätte Michael sich auf seine Arbeit konzentrieren können, wie er das die ganzen letzten fünf Jahre getan hatte, aber stattdessen erwischte er sich ständig dabei, wie er von Brenda
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