JULIA COLLECTION Band 20
war zwar nicht das geeignete Wetter, um eine Sonnenbrille aufzuhaben, doch bei Beerdigungen trugen die Leute schließlich auch oft dunkle Brillen, um ihre geröteten und verheulten Augen zu verbergen.
Oder – wie in Daisys Fall – die neugierigen Blicke.
Nein, dachte sie, dieser Mann stammt ganz sicher nicht von hier. Zumindest vom Sehen her kannte sie jeden Einwohner aus Muddy Landing, die meisten sogar mit Namen. Außerdem würde dieser Mann auf der Liste der verfügbaren Junggesellen, die Daisys Freundinnen Sasha und Marty sorgfältig führten, ganz oben stehen, hätten die beiden ihn jemals zu Gesicht bekommen. Vorausgesetzt natürlich, er war tatsächlich Junggeselle.
Sie versuchte zu erkennen, ob er einen Ring trug. Das tat er nicht, aber was sagte das schon aus?
Die Daumen hatte er unter den Gürtel gehakt und die Finger an die Jeans gedrückt. Daisys Blick glitt über seinen flachen Bauch. Bestimmt hatte er einen Waschbrettbauch.
Innerlich schüttelte sie den Kopf über ihre Gedanken. Anscheinend sah sie zu viel fern. Seit Harvey, ihr Langzeitpatient, völlig überraschend gestorben war, konnte Daisy nicht mehr gut schlafen. Doch von nun an würde sie sich nur noch den Wetterkanal angucken.
Der Mann stand völlig reglos da. Ob er Polizist war? Aber würde er dann nicht in Uniform sein? Außerdem war sein Haar dafür zu lang.
Fast so, als könne der Mann spüren, wie eingehend Daisy ihn musterte, schaute er auf einmal über die nassen Blumen und den Kunstrasen hinweg in ihre Richtung. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Blaue Augen an sich waren nichts Ungewöhnliches, doch in einem gebräunten Gesicht und unter dunklen Augenbrauen waren so blaue Augen einfach umwerfend.
Der kurze Gottesdienst war genau in dem Moment zu Ende, als ein Windstoß noch mehr Regen vom Fluss herüberwehte. Da es keine Familienangehörigen zu trösten gab, nieste der Pfarrer ein letztes Mal, murmelte noch ein paar unverständliche Worte und eilte dann zu seinem schwarzen Minivan. Die kleine Trauergemeinde löste sich auf.
Bis auf zwei Ausnahmen.
O nein, sie kommen auf mich zu!, stellte Daisy entsetzt fest.
Sie tat so, als könne sie Egberts Rufe nicht hören, während sie hastig durch die Pfützen zu ihrem Auto auf dem Parkplatz lief. Mit dem klatschnassen Haar, dem alten Kleid und dem noch älteren durchnässten Regenmantel wollte sie weder mit diesem Fremden noch mit Egbert sprechen. Das würde sie in ihren Plänen um mindestens ein halbes Jahr zurückwerfen.
Der Zeitplan, den sie sich gesetzt hatte, ließ ihr kein halbes Jahr Zeit. Sie wurde schließlich nicht jünger. In drei Monaten würde Egbert genau ein Jahr Witwer sein. Sie wollte ihn nicht bedrängen, aber sie wollte auch nicht riskieren, dass eine andere Frau ihr in die Quere kam.
Daisy fuhr auf die Straße, blickte auf die hektisch sich bewegenden Scheibenwischer und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Sie musste noch viele Sachen sortieren und packen, bevor Egbert als Testamentsvollstrecker Harveys Hab und Gut an die Begünstigten verteilte. Das waren in diesem Fall Harveys Haushälterin, die auch für Daisys Freundinnen arbeitete, und die Historische Gesellschaft, die schlecht organisiert und ohne eigenes Vermögen war.
Daisy sah in den Rückspiegel. Egbert fuhr zwei Wagen hinter ihr und blieb exakt zwei Meilen unter der Höchstgeschwindigkeit. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wieso sie auf einmal Gas gab und fünf Meilen schneller als erlaubt fuhr. Schließlich hielt sie sich sonst immer an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Daisy war die Vorsicht in Person.
„Wir müssen etwas wegen Daisy unternehmen.“ Draußen regnete es in Strömen. Sasha stützte die Ellbogen auf den Tisch und lackierte sich die langen Fingernägel in glitzerndem Violett. „In letzter Zeit wirkt sie sehr deprimiert.“
Daisy hatte ihre beiden Freundinnen darum gebeten, nicht zur Beerdigung zu kommen, und sie hatten auch nicht ernsthaft darauf bestanden.
„Sie ist nicht deprimiert, sie trauert. Daisy ist immer so, wenn sie einen Patienten verliert, besonders, wenn sie ihn lange betreut hat. Übrigens, diese Farbe passt überhaupt nicht zu deinem Haar.“
Prüfend schaute Sasha erst auf ihre Nägel und dann zu ihrer Freundin Marty Owens. „Wieso passt Violett nicht zu Kupferrot? Weißt du, Daisy macht sich das Leben selbst schwer, weil sie alles so ernst nimmt. Schlimm genug, dass sie immer so viel arbeiten muss, aber wenn sie dann noch bei einem Patienten einzieht,
Weitere Kostenlose Bücher