JULIA COLLECTION Band 20
konnte Kell das sogar verstehen. Wenn so kurz nach dem Tod eines Menschen entfernte Verwandte aus dem Nichts auftauchten, dann bedeutete das in jedem Fall Schwierigkeiten. Und Kell schätzte Blalock als einen Menschen ein, dem es am liebsten war, wenn alles erwartungsgemäß verlief.
Kell hätte ihm vielleicht sofort versichern sollen, dass er keinerlei Interesse an Harvey Snows Erbschaft hatte. Da es jetzt zu spät war, um seinen Verwandten kennenzulernen, wollte er wenigstens etwas über die Vergangenheit seines Vaters herausfinden. Eventuell gab es sogar noch ein paar Cousins hier in der Gegend.
Vor ungefähr fünfzig Jahren hatte Evander Magee als Sechzehnjähriger diese Gegend verlassen. Kell war vierzehn gewesen, als seine Eltern bei einem Feuer ums Leben kamen, bei dem auch sämtliche Dokumente und Unterlagen verbrannt waren, die ihm hätten bei seiner Suche helfen können. Bisher hatte Kell sich nicht weiter um seine Vergangenheit gekümmert, doch jetzt, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag, sollte er Patenonkel der Zwillinge seines besten Freundes werden. Das hatte ihn auf den Gedanken möglicher Verwandtschaft gebracht.
Zum ersten Mal war Kell bewusst geworden, dass er der letzte Magee war, und diese Erkenntnis war für ihn ziemlich bedrückend.
Wieder dachte er an die vom Regen durchweichte Blondine in Schwarz. Er mochte Frauen, egal ob sie Schwarz trugen oder irgendeine andere Farbe. Am liebsten hatte er sie, wenn sie überhaupt nichts am Leib hatten. Am Telefon hatte diese Frau ziemlich abweisend geklungen. Auch hatte sie ausgesehen, als würde sie frieren und sich unglaublich elend fühlen.
Kell fragte sich, ob es ihr mittlerweile wieder besser ging.
Der Tag der Beerdigung kam Daisy endlos vor. Am späten Nachmittag ließ der Regen endlich etwas nach. Ihre Freundinnen waren offensichtlich davon überzeugt, dass sie nicht allein sein sollte, und so tranken sie gemeinsam Eistee. Marty und Sasha blätterten in alten Illustrierten, während Daisy auf der Veranda in dem alten dunkelgrünen Schaukelstuhl lag. Die Veranda war seit dem Hurrikan beschädigt und niemals repariert worden. Daisy betrachtete die rosafarbenen Wolken, die sie über die dunkelgrünen Hecken hinweg erkennen konnte. Sie roch den frischen Duft der wuchernden Blumen. Das hier war ihr absoluter Lieblingsplatz, vorausgesetzt, die Mücken ärgerten sie nicht zu sehr.
Es war jetzt gerade mal zwei Monate her, seit der Hurrikan „Isabel“ über Muddy Landing hinweggefegt war, und immer noch sah man überall die Schäden, die er hinterlassen hatte. Sämtliche Baufirmen waren völlig überlastet.
Der Eigentümer von Daisys Apartmenthaus fand immer neue Erklärungen dafür, wieso Daisy noch nicht wieder einziehen konnte, und sie verstand das ja auch alles, aber länger konnte sie nicht hier in Harveys Haus wohnen. Sie musste wieder in ihr eigenes Leben zurückkehren.
Marty und Sasha hatten es sich auf Liegestühlen bequem gemacht, und Daisy wünschte sich, die beiden würden gehen, damit sie weiter aufräumen und packen konnte. Außerdem wollte sie Faylene beim Putzen der Zimmer helfen, die seit Jahrzehnten verschlossen geblieben waren. Vielleicht war ihr ja morgen mehr nach Shoppen und Friseur zumute. Aber nicht heute, wo sie noch von den Erinnerungen an den sanften alten Mann umgeben war, dessen gesamtes Erwachsenenleben von Schmerz und Einsamkeit beherrscht gewesen war.
„Hör auf, dem armen Mann nachzutrauern. Er hatte ein erfülltes Leben“, warf Sasha ein.
„Das bezweifle ich.“ Marty schüttelte den Kopf. „Sagtest du nicht, er sei bettlägerig gewesen?“
„Nur während der letzten paar Monate, nach seinen Schlaganfällen. Davor konnte er sich gut in seinem Rollstuhl bewegen. Ich glaube, ich bin einfach nur erschöpft. Ich habe Eg… Mr. Blalock versprochen, bis Ende nächster Woche mit dem Aufräumen fertig zu sein.“
„Will sich denn jemand das Haus ansehen?“
Daisy zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich all die Leute, die ständig hier anrufen.“ Wieder überlegte sie, was sie noch alles zu erledigen hatte. Anscheinend hatte Howard sein Leben lang Dinge gesammelt. Zum Glück bin ich da anders, dachte sie. Ich habe meine Kleider, ein paar hübsche Möbelstücke und ein paar Bücher meiner Lieblingsautoren. Die meisten der Bücher hatte sie von Marty bekommen. Das war eben der Vorteil, wenn man eine Buchhändlerin zur Freundin hatte.
„Tja, er war immer nett zu mir.“ Sasha seufzte. „Selbst wenn noch
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