Julia Extra 360
Augenbewegungen mit, wie er die Schlagzeile las. Die Buchstaben hatten sich längst in ihren Kopf eingebrannt.
Andreoni: Versöhnung überschattet vom Tod des geliebten Kindes.
Sie konnte sehen, wann der Sinn der Worte in ihn einsickerte. Schock, Verwirrung und Ungläubigkeit ließen ihn sich erst krümmen, dann erstarrte er zu Stein.
Keine Regung, kein Laut, nichts. Dann: „Was?!“ Ein einziges Wort nur, rau, wie erstickt, und doch beinhaltete es allen Schmerz der Welt.
Sie fühlte seine Anspannung, sah sein aschfahles Gesicht. Vor ihren Augen war er innerhalb von Sekunden um Jahre gealtert. Sie hatte nicht gewollt, dass er es auf diese Art herausfand. Hatte nur warten wollen, bis sie eine gefestigtere Position ihm gegenüber erlangte, bevor sie ihm schilderte, was sie durchgemacht hatte.
Sie hatte nicht gemerkt, dass sie den Atem anhielt. Jetzt ließ sie ihn lautstark aus den Lungen entweichen. „Ich war schwanger, als ich Italien vor zwei Jahren verließ. Ich stellte es aber erst fest, nachdem ich schon wieder in Sydney war.“
Er schluckte bemüht, sie sah seinen Adamsapfel hüpfen. „Schwanger?“
„Ja.“
In der donnernden Stille hallte sein Atemzug lautstark wider. Wie gehetzt sah er sie an. „Du hattest ein Baby?“
„Ja.“
„ Mein Baby?“
Seine Frage traf mit der Wucht eines Hammers genau in ihr Herz. Fassungslos starrte sie ihn an. „Wie kannst du so etwas fragen? Wie kannst du nur?!“
Seine Miene zeigte sofort Reue, er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Entschuldige, ich denke im Moment nicht klar. Verzeih. Natürlich war das Kind von mir.“ Er wirkte wie erschlagen. „Junge oder Mädchen?“
Sie blinzelte Tränen zurück. „Ein Mädchen.“
„Was ist mit ihr passiert?“ Seine Stimme war nurmehr ein Krächzen.
Gisele holte gequält Luft. „In der sechzehnten Woche sagte man mir, dass es Probleme gebe. Man riet mir, die Schwangerschaft abzubrechen. Aber ich wollte dem Baby eine Chance geben, so gering diese auch sein mochte. Ich wollte, dass sie es schafft. Nie habe ich mir etwas mehr gewünscht. Doch sie lebte nur wenige Stunden. Sechs Stunden, fünfundzwanzig Minuten und dreiundvierzig Sekunden, um genau zu sein.“
Emilio meinte, ihn hätte ein Amboss aus dem Nichts getroffen. Für eine solche Nachricht war er nicht gewappnet gewesen, nichts hätte ihn darauf vorbereiten können. Wie erstarrt stand er da, in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Und jeder Gedanke schrie laut „Schuld“, imaginäre Zeigefinger richteten sich anklagend auf ihn.
Gisele war schwanger gewesen, als er sie hinausgeworfen hatte. Er hatte sie auf die Straße gesetzt, während sein Kind in ihr heranwuchs …
Ein Kind, von dem er bis gerade eben nichts gewusst hatte, das er nie gekannt hatte. Was hatte das Leben seines Kindes unmöglich gemacht? Was war so schrecklich schiefgelaufen, dass man Gisele einen Abbruch nahegelegt hatte?
Er dachte an seine kleine Tochter. Hatte sie gelitten? Sein Magen verkrampfte sich. Wieso hatte man ihn nicht benachrichtigt?
„Was für ein Problem war das? Was stimmte nicht mit ihr?“
„Eine genetische Anomalität. Ihre Organe entwickelten sich nicht richtig. Man konnte nichts tun.“
Seine kleine Tochter hatte also nie eine Chance gehabt. Wäre es anders verlaufen, wenn er bei Gisele gewesen wäre? Hätte er seine Tochter retten können? Er hätte auf jeden Fall Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt!
Frustration und Trauer schlugen über ihm zusammen. Emotionen, die er sich nie erlaubt hatte, drängten sich an die Oberfläche, bis er um Atem rang.
„Die Ärzte sagten nur, dass das manchmal passiert. Niemand weiß, warum. Doch ich frage mich ständig, ob ich etwas falsch gemacht habe, ob ich vielleicht etwas hätte tun können, um …“
Das Schuldgefühl wollte Emilio verschlingen. Wenn überhaupt von Schuld die Rede sein konnte, dann lag sie bei ihm. Der Stress, den Gisele hatte durchmachen müssen, war vielleicht der ausschlaggebende Faktor gewesen, um eine normale Entwicklung des Babys zu hemmen.
Seines Babys.
„Warum hast du mich nicht wissen lassen, dass du schwanger warst?“, fragte er. „Ich hätte dir helfen können. Vielleicht hätte das den Unterschied gemacht. Warum hast du die Existenz meines Kindes vor mir geheim gehalten? Hatte ich etwa nicht das Recht, von ihm zu erfahren?“
Ihr Blick wurde hart. „Scheinbar kannst du dich nicht mehr an deine Abschiedsworte erinnern. Du wolltest mich nie wieder sehen, wolltest nie
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