Julia Extra 360
eingewickelt, als sie …“ Sie unterbrach sich, schluckte. „Bevor ich sie für die Beerdigung angezogen habe.“
Er steckte die Nase in die Decke, sog tief den Duft ein – den süßen Duft nach unschuldigem Baby und Babypuder. Ein Duft, der so kostbar war, dass Gisele wünschte, er würde sich nie verflüchtigen.
Sie sah die einzelne Träne über Emilios Wange laufen, und die Gefühle für ihn überwältigten sie. So lange hatten Ärger und Verbitterung jede andere Empfindung für ihn abgetötet, doch jetzt … Wie musste er sich fühlen, das kurze Leben seines Kindes verpasst zu haben? Sie kam sich schrecklich schuldig vor, dass sie ihm nichts von seiner Tochter gesagt hatte. Sie hatte ihn falsch beurteilt, genau, wie er sie falsch beurteilt hatte. Würde er ihr je vergeben?
Nach einer langen Weile reichte er ihr die Babydecke zurück. „Danke.“
„Emilio …“ Sie richtete den Blick auf seine Augen. „Es tut mir leid, dass ich nicht den Versuch gemacht habe, dich zu informieren. Erst jetzt wird mir klar, wie falsch es war.“
Voller Selbstironie verzog er die Lippen. „Wahrscheinlich hätte ich dich gar nicht angehört. Ich war zu stolz, zu stur. Ich habe eine schlimme Situation noch schlimmer gemacht.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und es klang, als würde er über Sandpapier reiben. „Ich war von Anfang an so unfassbar, so unverzeihlich blind.“
„Wir beide haben Fehler gemacht.“
„Ich weiß nicht, wie ich es je wiedergutmachen soll.“ Aufgewühlt sah er sie an. „Seit ich ein Kind war, habe ich mich nicht mehr so machtlos gefühlt, so völlig geschlagen.“ Schwer stieß er die Luft aus. „Du hast recht, cara . Das Leben hat keinen Resetknopf.“
Gisele schluckte den Kloß hinunter, der ihr in der Kehle saß. „Es tut mir so leid …“
„Was sollte dir leidtun? Du hast nichts Falsches getan. Du bist die Unschuldige in dieser ganzen verfahrenen Situation. Nichts davon wäre passiert, hätte ich dir vertraut.“ Er drehte sich wieder zum Fenster, sein Rücken steif, seine Schultern schwer vom lastenden Schuldgefühl.
„Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Wäre es andersherum gewesen …“
Tiefer Gram stand in seiner Miene zu lesen, als er ihr das Gesicht zuwandte. „Suche nicht nach Entschuldigungen für mich, Gisele. Du wärst völlig anders damit umgegangen. Ich weiß es. Wir beide wissen es. Ich habe den Fehler begangen, nicht du. Damit muss ich leben. Eine Entschuldigung reicht nicht aus. Aber das wusstest du ja schon vorher.“
Gisele fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihr Herz wurde schier zerdrückt von maßlosem Schmerz. Ihr Leid mit Emilio zu teilen hatte es nicht halbiert, sondern verdoppelt. Jetzt spürte sie auch seine Qualen, ebenso stark wie die eigenen. Sie hatte lernen müssen, mit ihrem Schmerz umzugehen – wie sie mit seinem umgehen sollte, wusste sie beim besten Willen nicht. Zu seiner schlimmen Kindheit kam jetzt noch der Verlust seines eigenen Kindes hinzu. Es war nicht fair … aber was war schon fair im Leben?
Emilio kam zu ihr. „Es ist viel verlangt, wenn ich dich bitte, trotzdem noch in Italien zu bleiben. Aber ich verspreche, mein Möglichstes zu tun, um dich vor den Medien zu schützen. Ich werde mich um alles kümmern, du brauchst die Villa nicht zu verlassen.“
„Mich zu verstecken ist keine Lösung“, widersprach sie. „Ich weiß nicht, wie die Presse an das Foto gekommen ist, aber wenn sie eines haben, gibt es sicherlich noch mehr. Ich lasse mich nicht zum Opfer machen.“
„Also bleibst du den vollen Monat?“
Gisele studierte sein Gesicht. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Sachen packen und abreisen würde, wie sie den Schlussstrich unter die Beziehung setzen und nie wieder zurückblicken würde. Emilio stellte es ihr frei. Konnte sie es? Wollte sie es überhaupt? Er hatte ihr einen ersten Einblick in seine Kindheit gewährt. Wie viel mehr würde er preisgeben, wenn sie den ganzen Monat blieb? Würde sie ihn dann nicht besser verstehen können? Sie wollte ihn verstehen. „Ich bleibe“, beschloss sie.
Er legte die Hände auf ihre Schultern und zog sie in eine zärtliche Umarmung, die an ihre Seele rührte. Er hatte sie schon tausendmal berührt, aber das hier war anders. Mit dunklen Augen schaute er sie hypnotisierend an, dann beugte er den Kopf und strich unglaublich sanft mit dem Mund über ihre Lippen. „Danke. Ich werde alles in meiner Macht Stehende
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