Julia Extra 360
seines Büros. Fast einen Monat war es her, seit Gisele abgereist war, und noch immer konnte er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Genau gesagt konnte er sich auf nichts konzentrieren. Er wusste nicht einmal, wann er das letzte Mal mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen oder eine richtige Mahlzeit gegessen hatte. Er funktionierte nur noch.
Sein Leben war leer. Er war leer.
Selbst das Wetter hatte sich seiner Laune angepasst. Ein vielversprechender Frühlingsanfang war von trübem Nieselwetter abgelöst worden, das sich schon seit Tagen hielt. Die Regentropfen, die an der Scheibe herabliefen, erinnerten ihn stechend an die Trauer, die in seiner Seele lebte.
Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er nicht mehr geweint, seit ein mitleidloser Heimleiter ihm unverblümt gesagt hatte, dass seine Mutter nicht zurückkommen würde. Er hätte gedacht, seine Tränendrüsen müssten längst verkümmert sein, waren sie doch seit etlichen Jahren nicht benutzt worden.
Doch er brauchte nur das Foto seiner kleinen Tochter anzusehen, und schon öffneten sich die Schleusen.
Er hatte das Richtige tun wollen, hatte es bei Gisele wiedergutmachen wollen. Aber als er gesehen hatte, wie sehr der Gedanke, noch ein Kind zu haben, sie aufwühlte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sie gehen zu lassen. Es war das einzig Richtige, was ein Ehrenmann tun konnte. Verdammt! Er fragte sich, ob der Schmerz je vergehen würde.
Sie hatte ihm eine E-Mail geschickt, mit einem höflichen Dank für seine Hilfe bei der Ausweitung ihres Geschäfts. Er hatte auf die Worte gestarrt und versucht, etwas zwischen den Zeilen zu finden … irgendeinen Hinweis, eine Andeutung … Doch nichts. Nun, was hatte er erwartet? Würde sie ihn lieben, wäre sie nicht gegangen. Aber sie hatte die erste Möglichkeit ergriffen und ihn verlassen.
Carla, seine Sekretärin, brachte ihm seinen Nachmittagskaffee, wie jeden Tag. Emilio drehte sich nicht einmal um. „Stellen Sie ihn einfach auf den Schreibtisch.“
„Da ist auch ein Paket für Sie. Persönlich“, sagte sie gewichtig. „Der Absender ist Signorina Carter. Soll ich es öffnen?“
Jetzt drehte er sich um. „Nein danke, das mache ich selbst.“ Eiskalte Finger griffen nach seinem Herzen. „Das wäre dann alles für heute, Carla. Nehmen Sie sich ruhig den restlichen Nachmittag frei.“
„Da ist noch das Venturi-Projekt. Es gibt doch eine Frist …“
Er zuckte nur die Schultern. „Es wird fertig, wenn es fertig wird. Falls es ihnen nicht passt, sollen sie sich einen anderen Architekten suchen.“
Carla hatte Mühe, ihre hochgerissenen Augenbrauen wieder zu senken. „Sì, signor“ , sagte sie und zog die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich ins Schloss.
Mit den Fingern fuhr Emilio über Giseles Handschrift über ihren Namen im Absenderfeld. Vermutlich schickte sie ihm den Schmuck zurück, den er ihr geschenkt hatte. Es hatte ihn sowieso gewundert, dass sie alles mitgenommen hatte. Er hätte nicht gedacht, dass sie Erinnerungen an ihn bewahren wollte.
Sorgfältig entfernte er das Packpapier, öffnete den Karton … Emotionen brannten in seiner Kehle, als er die handgefertigte Decke seiner kleinen Tochter in dem Paket liegen sah, obenauf ein einzelner Briefbogen, den er mit zitternden Händen herausnahm.
Du sagtest einmal, ich würde wissen, wann die Zeit reif ist, um Abschied zu nehmen. Du hattest recht.
Gisele
Eine Flutwelle von Emotionen brach über ihn herein. Er war weder beim Beginn noch beim Ende des kurzen Lebens der gemeinsamen Tochter dabei gewesen, doch jetzt würde er für immer bei ihr sein. Gisele hatte ihm dieses Privileg gewährt. Was mochte es sie gekostet haben? Sie hatte ihm ihr Herz überlassen.
Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz.
Sie hatte ihm ihr Herz überlassen.
Dio mio , was hatte er nur getan?! Er hatte sie weggeschickt, wenn er doch nichts anderes wollte, als sie bei sich zu haben. Wieso hatte er ihr nicht gesagt, was er fühlte? Hätte es ihn umgebracht, die Worte auszusprechen? Selbst wenn sie trotzdem gegangen wäre … sie verdiente zu wissen, dass er sie liebte. Sie war die Einzige, die er je geliebt hatte, die er je lieben würde.
Er war ein erbärmlicher Feigling. Kein Mann, sondern ein verängstigter kleiner Junge, der Angst davor hatte, wieder verletzt zu werden! Deshalb hatte er seine Gefühle ständig sicher unter Verschluss gehalten. Er hatte es sich ja nicht einmal selbst eingestanden, geschweige denn ihr.
Wie hatte er nur so
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