Julia Extra Band 0193
sie sich hatte beherrschen können. Bitterkeit, Enttäuschung lag darin, und Cass wandte sich ab, bevor sie sich noch mehr Blöße geben konnte.
Er verstand den Wink, nahm seinen Mantel und ging zur Tür. „Ich werde dich morgen anrufen.“
Sie zuckte nur die Schultern. Morgen wäre sie wahrscheinlich gefasster, bereit für den Kampf. Aber heute wollte sie nur noch allein sein.
Hinter ihm ließ sie leise die Tür ins Schloss schnappen und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken dagegen.
Noch ein Todesfall. Erst Vater, dann Mutter, jetzt die Schwester. Es reichte aus, um sich die Frage aller Fragen zu stellen: Warum ausgerechnet unsere Familie?
Sie ging zum Bücherregal und zog das Familienalbum heraus. Die Familie, alle zusammen, fröhlich lachend auf Feiern, im Urlaub, bei Schulveranstaltungen.
Diese Fotos machten Cass traurig. Ihre Mutter, eine glückliche, attraktive Frau, ihr Vater, in der Blüte seiner Jahre, stolz auf seine Familie. Pen, ihre kleine Schwester, das wunderhübsche Engelchen mit den blonden Haaren – und sie selbst, unbeschwert und fröhlich.
Und dann stellte sich das Schuldgefühl ein. Was hätte sie tun können – sollen? Es schien, dass sie immer alles falsch gemacht hatte.
Sie hatte mit dem Medizinstudium begonnen, in der Hoffnung, ihrer verwitweten Mutter einen schönen Lebensabend garantieren zu können. Dann war ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt, und sie wünschte sich, sie wäre nie von zu Hause weggegangen.
Nach der Beerdigung hatte sie die Verantwortung für die verbliebene kleine Familie übernommen und war trotz Pens lautem Protest und endlosem Schmollen in dieses kleine Haus nach London gezogen. Pen hatte dann langsam an der neuen Schule auch neue Freunde gefunden, und Cass hatte erleichtert aufgeseufzt. Endlich war die Schmollzeit vorbei.
Doch die Erleichterung hatte nicht lange angehalten. Innerhalb kurzer Zeit trieb Pen sich in Nachtclubs und Bars herum, in denen aufreizende Blicke mehr galten als das Geburtsdatum, und Cass hatte sich verzweifelt gefragt, wie sie Pen unter Kontrolle und zur Vernunft bringen konnte.
Das war jetzt Jahre her, und noch immer stellte Cass sich diese Frage. Hätte sie die Antwort gefunden, vielleicht hätte sie das Schlimmste verhindern können … Vielleicht wäre Pen dann noch am Leben …
2. KAPITEL
Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Als um sieben Uhr morgens ihr Beeper sich meldete, war sie regelrecht erleichtert. Der diensthabende Arzt der Notaufnahme war krank. Ob sie für ihn einspringen könnte? Nur zu bereitwillig sagte sie zu. Arbeit war besser als Grübeln, das zu keinem Ergebnis führte.
Niemand sah der fähigen und effizient arbeitenden Dr. Cassandra Barker an, dass sie sich in den Schlaf geweint hatte. Sie nähte Schnittwunden, pumpte Mägen aus, reanimierte sogar bei einem Herzanfall – alles in der gleichen überlegten, ruhigen Art wie immer.
Die Trauer war trotzdem da. Aber sie musste zurücktreten, während Cass sich um die Schmerzen anderer Leute kümmerte.
Wieder zu Hause, rief sie ihre Großtante an und die Cousine ihrer Mutter, die einzigen lebenden Verwandten. Doch ging sie nicht ans Telefon, als es klingelte. Sie wollte mit niemandem mehr reden. War nicht in der Lage dazu.
Erst viel später hörte sie den Anrufbeantworter ab. Drei Nachrichten waren gespeichert, alle drei von Drayton Carlisle, jede von ihnen verärgerter als die vorhergehende. Das bisschen Sympathie, das er ihr je entgegengebracht hatte, schien nun endgültig aufgebraucht. Cass war das egal, so sagte sie sich zumindest. Er hatte sie nie verstanden, hatte auch nie ihre Beziehung zu Pen verstanden. Schließlich wusste er nichts über die Vergangenheit der Schwestern.
Manchmal hatten Geheimnisse eben eine solche Wirkung. Pen hatte ihre Geheimnisse ordentlich einsortiert, in kleine, gut verdauliche Päckchen, und sie ganz tief unten in ihrem Bewusstsein vergraben. Niemand würde sie je ans Tageslicht holen können. Das Problem war Cass. Cass kannte Pens Geheimnisse, hatte sie miterlebt, hatte ihr geholfen. Cass würde die Geheimnisse wahren, aber Pen war sich nie wirklich sicher gewesen. Schließlich gehörte sie selbst zu den Menschen, die jedes Geheimnis irgendwann herausposaunten. Vielleicht tat Cass ja auch so etwas. Und das machte sie zu einer potenziellen Gefahr, von der man sich am besten fernhielt.
Also hatte Pen sich ferngehalten und ein neues Leben angefangen. Cass hatte das akzeptiert, weil sie sich
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