Julia Extra Band 0193
Schwester zu bewundern und mögliche Zweifel bewusst zu verdrängen. Alle Gäste lächelten an diesem Tag, sogar Drayton Carlisle. Als Trauzeuge für seinen Bruder trug er einen feierlichen Frack, und nach der Zeremonie presste er das frischverheiratete Paar in einer großen Umarmung an sich.
Cass wusste nicht, was sie von dieser Geste halten sollte. Einerseits war sie froh, dass Pen in die Familie Carlisle akzeptiert wurde, andererseits bedeutete das auch, dass sie ihre Schwester verlieren würde. Pen stand auf der Schwelle zu einem völlig neuen Leben, und den Bemerkungen nach, die Pen hie und da hatte fallen lassen, wollte sie sämtliche Brücken zu ihrem alten Leben abbrechen.
Cass konnte das sogar verstehen, und so mischte sie sich unter die Gäste vor der Kirche, als Drayton Carlisle auf sie zukam.
„Ich habe Sie schon überall gesucht“, begann er ohne Einleitung.
Nicht gerade eine höfliche Begrüßung, warum also spürte sie diese plötzliche starke Anziehungskraft? „Ja, ich freue mich auch, Sie wiederzusehen.“
Angesichts der Ironie zog er verblüfft eine Augenbraue in die Höhe, dann fasste er sie beim Arm und sagte nur: „Kommen Sie.“
„Wohin?“
Er steuerte sie durch die Menge. „Für die Fotos.“
„Oh.“ Es war nicht zu überhören, dass sich ihre Begeisterung in Grenzen hielt.
Er betrachtete sie erstaunt. „Wollen Sie denn bei diesem glücklichen Anlass nicht mit auf den Fotos sein?“
„Ich bin kamerascheu“, entschuldigte sie sich lahm.
„Es sollen nur ein paar Gruppenaufnahmen gemacht werden“, versicherte er ihr, als sie um die Ecke der Kathedrale bogen und auf die Gruppe zugingen, die dort unter einem blühenden Kirschbaum wartete.
Es war offensichtlich, dass Pen jeden Augenblick genoss. Schließlich stand sie im Mittelpunkt, und sie posierte für die Kamera in jeder erdenklichen Pose – und nicht immer unbedingt die Pose, die man von einer Braut erwartete.
Drayton war es nicht entgangen. „Nun, Ihre Abneigung scheint auf jeden Fall nicht genetisch bedingt zu sein.“
Cass nahm diese Bemerkung als Kritik auf. „Es ist Pens großer Tag, und sie genießt ihn. Ist daran etwas falsch?“, erwiderte sie ein wenig scharf.
„Nein, eigentlich nicht“, meinte er versöhnlich. „Ich wollte damit auch nur sagen, wie verschieden Sie beide offensichtlich sind.“
„Nun, wenn ich so aussehen würde wie Pen, wäre ich vielleicht auch eher versucht, ein wenig mit der Kamera zu flirten.“
„So?“ Er musterte sie forschend: das dunkle Haar, die grünen Augen, die klassischen Gesichtszüge, die vollen Lippen, die selbst dann noch sinnlich wirkten, wenn sie versuchte, ein missbilligendes Gesicht zu machen. „Vielleicht wirkt Ihr Aussehen nicht so auf den ersten Blick erschlagend wie das Ihrer Schwester, aber ich bin sicher, dass viele Männer Sie attraktiver finden als Pen. Und ich bin auch sicher, dass Sie Ihre Wirkung auf Männer kennen. Es kümmert Sie nur nicht.“
Teilweise hatte er sogar recht. Cass interessierte es wirklich nicht, wie sie mit ihrem Äußeren auf Männer wirkte. Allerdings ließ sie das erst recht in Verteidigungsstellung gehen.
„Und das alles haben Sie in zwei kurzen Minuten Konversation herausgefunden, was?“
„Nein. Natürlich hat Pen einiges von Ihnen erzählt.“
„Oh ja.“ Sie konnte sich genau vorstellen, wie Pens Beschreibung über sie ausgefallen war. Konservativ. Altmodisch. Unscheinbar. Langweilig.
Ihr blieb jedoch keine Möglichkeit, nachzufragen, denn in diesem Moment rief der Fotograf die Familie für das Foto zusammen.
„Damit sind wir gemeint.“ Drayton griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich.
Die Berührung war nur kurz gewesen, ihre Wirkung auf Cass jedoch nicht. Selbst als er sie neben Pen positioniert und ihr ins Ohr geflüsterte hatte, sie solle lächeln, schließlich sei dies keine Trauerfeier, spürte sie noch den warmen Druck seiner Finger.
Schon damals hätte sie die Flucht ergreifen sollen. Hätte die Fotos machen, ihrer Schwester Glück wünschen und sich dann ein Taxi rufen sollen.
Aber sie war geblieben. Hatte dem dummen Bedürfnis nachgegeben, herausfinden zu wollen, was diese seltsame Reaktion bedeutete. Ob sie überhaupt wahr war.
Oh ja, sie war wahr gewesen. Nun, drei Jahre später, wusste sie es. Doch sie hatte kein gutes Wort dafür übrig. Dieses quälende, selbstzerstörerische Gefühl, das sie einmal für Drayton Carlisle empfunden hatte, hatte vielleicht damals mit L angefangen und fünf
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