Julia Extra Band 0193
Buchstaben gehabt, aber jetzt nicht mehr.
Es war wie ein Fieber gewesen, das einen unvorhergesehen überfiel und alle Vernunft ausschaltete. Und ein Mal, ein einziges Mal, war Pen die Vernünftigere von ihnen gewesen. Sie hatte einen klaren Kopf behalten, als Cass in diesem kurzen Rausch, der nur wenige Wochen gedauert hatte, alle Logik und jeden Sinn für die Wirklichkeit in den Wind geschlagen hatte.
Und dann war es plötzlich vorbei gewesen. Sie hatte sich schwach und ausgehöhlt und leer gefühlt. Doch das war jetzt auch vorbei. Sie war darüber hinweg und immun. Nur ein schlechter Nachgeschmack war geblieben, aber das würde ihr helfen, kühl und distanziert zu bleiben, wenn sie ihre Schwester zu Grabe trug.
Nach der Beerdigung würde sie sich ihrer Trauer überlassen können.
3. KAPITEL
Cass verzichtete darauf, in North Dean Hall anzurufen, um sich vom Bahnhof abholen zu lassen. Sie nahm sich ein Taxi zum Krematorium.
Die gesamte Familie Carlisle war vertreten, und als Cass die Andachtshalle betrat, winkte Drayton ihr zu, sich zu ihnen zu setzen. Doch sie schüttelte stumm den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl in der hinteren Hälfte der Kapelle.
Die Messe war eine seltsam unpersönliche Angelegenheit. Die Rede des Pfarrers war voller Plattitüden und Allgemeinplätze, die mit der wahren Person Pen kaum etwas gemein hatten.
Cass sah, wie einige Trauergäste gerührt in ihr Taschentuch schnupften, und sie sah auch die besorgten Blicke zweier hochschwangerer junger Frauen, wahrscheinlich Freundinnen von Pen aus dem exklusiven Country Club.
Cass hätte ihnen gern versichert, dass heutzutage kaum noch Frauen auf dem Kindbett starben. Nur solche, die Pens körperliche Verfassung hatten. Einer der wenigen Fälle, die die Mediziner ohne Vorwarnung trafen und ihnen die Grenzen ihrer Kunst zeigten.
Allerdings hätte das bei Pen nicht sein müssen. Pen hatte die Tatsachen gekannt und sie absichtlich verschwiegen. Pen hatte eine gekrümmte Gebärmutter, deshalb hatte sie ihr erstes Baby verloren. Deshalb war das Risiko für sie hoch gewesen, jedes Baby zu verlieren – und ihr Leben.
Cass versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, als der Sarg sich langsam auf dem Förderband in Bewegung setzte, um hinter dem dunklen Samtvorhang zu verschwinden. In diesem Moment hätte Cass am liebsten losgeschrien, über die Ungerechtigkeit des Lebens, die Härte des Schicksals, den Verlust ihrer schönen Schwester.
Cass wusste nicht, ob die Messe zu Ende war, sie wusste nur, dass sie dringend frische Luft brauchte. Vorsichtig schob sie ihren Stuhl zurück und ging zu dem großen Portal. Kaum draußen, wurde ihr plötzlich klar, dass sie nur einen Gedanken hatte: weg von hier, so schnell wie möglich.
Sie hätte es auch fast geschafft, war schon fast zum Friedhofstor hinaus, als sie Schritte hinter sich hörte.
„Wo zum Teufel willst du hin?“, verlangte Drayton zu wissen.
War das nicht klar? „Zurück nach London.“
„Nein!“ Er hielt sie am Arm fest. „Zumindest jetzt noch nicht. Du hast versprochen, mit Tom zu reden.“
„Was versprichst du dir davon?“, hielt sie dagegen. „Ich kenne deinen Bruder kaum, und im Trösten war ich noch nie besonders gut.“
Er lachte hart auf. „Das glaube ich dir unbesehen. Aber ich denke nicht, dass Tom von dir getröstet werden will. Er scheint zu denken, dass du weißt, warum Pen gestorben ist.“
Cass runzelte die Stirn. „Haben die Ärzte es ihm denn nicht gesagt?“
„Die medizinischen Ursachen, natürlich.“
„Soll ich ihm etwa die lateinischen Ausdrücke erklären?“
Er warf ihr einen Blick zu, als sei sie völlig verrückt geworden. „Was immer du auch in deinem Krankenhaus tust, ich glaube kaum, dass du dazu in der Lage wärst.“
Cass wurde wütend. „Woher solltest du das wissen? Was weißt du überhaupt von mir? Ich sage dir, was du mit deinem …“
„Nichts“, unterbrach er sie knapp. „Ich weiß nichts über dich. Aber hier geht es nicht um dich und mich, hier geht es um Tom. Er steht kurz vor einem Zusammenbruch, und er scheint zu denken, dass du der rettende Strohhalm bist, an den er sich klammern kann. Also, was auch immer du von mir halten magst, oder was immer ich von dir denke, ist hier zweitrangig.“ Er schob sie recht unsanft, wie ein ungehöriges Schulmädchen, zu der Trauergemeinde zurück. „Kannst du dich nicht für ein paar Stunden zusammennehmen?“, knurrte er leise. „Immerhin trauern diese Menschen um deine
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