Julia Extra Band 0193
erfahren?
Cass schüttelte sich leicht. Nein. Tom konnte unmöglich recht mit seiner Vermutung haben. Und trotzdem …
„Dr. Barker?“, hörte sie plötzlich eine Stimme rufen. „Dr. Barker, sind Sie hier?“
Cass kannte die Stimme nicht. „Ja, und wer sind Sie?“
„Schwesternschülerin Clemens“, kam es verlegen zurück. „Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber Ihr Bekannter bat mich, nach Ihnen zu sehen, ob mit Ihnen auch alles in Ordnung ist.“
Cass unterdrückte einen Fluch. Jetzt schickte er also schon Schwesternschülerinnen los, um ihr hinterherzuspionieren! Sie kam aus der Kabine heraus, lächelte dem jungen Mädchen gezwungen zu und zählte am Waschbecken vor dem Spiegel in Gedanken bis zehn, um sich abzuregen.
Trotzdem kochte sie immer noch vor Wut, als sie an den Tisch zurückkehrte.
„Wie kannst du es wagen?“, fauchte sie Dray an und wollte nach ihrer Handtasche greifen.
Doch Dray, der ihre Absicht erkannte, war schneller. Er riss ihre Tasche an sich und forderte sie leise auf, sich zu setzen. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
„Ha!“ Sie lachte hart auf. „Gib mir meine Tasche zurück.“
„Nein. Erst setzt du dich und hörst mir zu.“
In jedem anderen Pub in London hätte sie eine Szene gemacht, aber hier verkehrte das gesamte Krankenhauspersonal. Sie wollte nicht zur Zielscheibe des Klatsches werden. Also setzte sie sich, und sie zitterte buchstäblich vor Rage.
„Ich entschuldige mich“, versuchte er die Situation zu entschärfen, „aber ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Du warst lange weg, deshalb bat ich das Mädchen …“
„Das Mädchen ist Schwesternschülerin und untersteht mir offiziell. Mir auf der Toilette nachzuspionieren wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass ihre Achtung vor mir wächst. Wie würde es dir gefallen, wenn ich bei einer deiner Vorstandssitzungen hereinschneite und dein persönliches Leben vor deinen Geschäftspartnern breitträte?“
Die Vorstellung schien ihn kalt zu lassen. „Ich würde es überleben.“
Ja natürlich, als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender würde er es überleben. Er konnte sich alles erlauben. „Wahrscheinlich sind sie es von dir sowieso gewöhnt“, murmelte sie.
Seine Augen verengten sich. „Was soll das heißen?“
Cass sah keinen Grund, ihm das Offensichtliche zu erklären. „Du kannst ja raten.“
„In meinem Leben gibt es nichts so Außergewöhnliches, dass man sich darüber aufregen müsste. Ich gehe mit Frauen aus, und wenn sie mir gefallen, schlafe ich mit ihnen, was heutzutage ja als ziemlich normal erachtet wird.“
Oh, er war ja so glatt! Er hatte sich alles so schön zurechtgelegt, dass er nie Gewissensbisse haben musste. „Die Frage ist doch wohl nur, mit wem genau du schläfst.“
„Ja, manchmal darf man mit Recht behaupten, dass mein Urteilsvermögen eingeschränkt ist.“ Er sah Cass so direkt an, dass diese Bemerkung sich nur auf sie beziehen konnte.
„Sicher, vor allem wenn die Frau deines Bruders mit einbezogen ist“, schoss sie zurück.
Eine Ader an seiner Schläfe zuckte, ansonsten zeigte er keine Reaktion. „Was willst du damit andeuten? Könntest du dich etwas genauer ausdrücken?“
Cass hatte so darauf gehofft, dass er es abstreiten würde. Aber dieses Hinterfragen machte sie elend und noch wütender. „Nun, dann will ich es für dich ganz deutlich ausdrücken: Hast du mit meiner Schwester geschlafen?“
Keine heftige Reaktion, kein Wutausbruch, kein Aufbrausen, nur ein eiskalter Blick und die typische Verachtung der oberen Zehntausend. „Behauptet sie das in ihrem Nachlass?“, fragte er mit einer hochgezogenen Augenbraue, und Cass hätte ihm am liebsten den schweren Kristallaschenbecher an den Kopf geworfen.
Wie hatte sie sich je einbilden können, diesen Mann zu lieben? „Was glaubst du?“ Sie hatte genug. Sie griff nach ihrer Tasche, um zu gehen, aber er hielt sie am Arm fest.
„Ich glaube“, meinte er langsam und bedacht, „dass junge werdende Mütter keine Abschiedsbriefe schreiben. Ich glaube daher, dass deine Schwester wusste, dass das Risiko bestand, sie könnte bei der Geburt sterben. Ich glaube ebenso, dass sie daher diesen Brief an ihre nächste weibliche Verwandte geschrieben hat – vielleicht etwas zu optimistisch –, um sie zu bitten, sich um das Kind zu kümmern, falls Tom herausfinden sollte, dass es nicht von ihm ist … Komme ich der Sache näher?“
Ja, er war wirklich nahe dran. Und das konnte nur einen Grund haben.
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