Julia Extra Band 0193
an das Mündchen hielt, saugte sie gierig daran.
Cass setzte sich auf einen Stuhl, um ihre Nichte zu füttern. Das winzige rote Mündchen, die blauen Augen, die langen Wimpern und der Schopf dunklen Haares – das Mädchen zeigte wenig Ähnlichkeit mit Pen, aber Cass fühlte plötzlich eine Welle der Liebe und Zärtlichkeit, mit solcher Wucht, dass ihr blitzartig klar wurde, warum sie sich bisher ferngehalten hatte.
„Wissen Sie, normalerweise habe ich die Flasche immer fertig, wenn sie aufwacht, aber heute ist sie früher wach geworden …“ Mrs Henderson seufzte. „Ich mache das wirklich gern, ich meine, mich um sie zu kümmern. Ich hatte nie eigene Kinder … Und so genau kenne ich mich nicht aus.“
Cass betrachtete die Haushälterin. Sie musste um die sechzig sein. Sicher, sie wirkte gesund und fit, aber erwartete Dray Carlisle von ihr, dass sie das Haus in Ordnung halten und sich um ein Baby kümmern sollte?
„Ach“, fuhr Mrs Henderson fort, „wahrscheinlich hätte ich die junge Frau fragen sollen.“
„Die junge Frau?“, hakte Cass nach.
„Melanie.“ Mrs Hendersons Blick wurde abweisend. „Sie war als Kindermädchen hier. Aber nicht lange. Ist gestern gegangen. Einfach so. Sagte, sie hätte genug davon und war weg. Ich hab’s Mr Carlisle noch gar nicht gesagt.“
Cass war entrüstet. Seit gestern? Und es war ihm noch nicht aufgefallen?
„Er ist zurzeit in Amerika“, beantwortete Mrs Henderson Cass’ unausgesprochene Frage. „Und Mrs Carlisle, Mr Simons Frau, meinte, es sei besser, damit zu warten, bis er wieder hier ist. Hoffentlich macht er mir deswegen keine Vorwürfe …“
„Weshalb sollte er Ihnen denn Vorwürfe machen?“ Cass versuchte, zuversichtlich zu klingen, auch wenn sie selbst Erfahrungen mit Drays herrischem Temperament gemacht hatte.
„Wissen Sie“, wieder kam dieser abweisende Ausdruck in Mrs Hendersons Augen, „mit dem Kindermädchen war alles wunderbar, solange Mr Carlisle hier war. Allerdings weiß ich jetzt, dass Ellie dabei nicht die Hauptrolle zukam.“
Cass konnte sich denken, wer die Hauptrolle gespielt hatte. Dray Carlisle und seine leichten Eroberungen. Aber sie richtete den Blick wieder auf das kleine Wesen, das in ihren Armen lag. Ellie. Es hatte also einen Namen bekommen. Wer ihn wohl ausgesucht haben mochte?
„Soll ich sie Ihnen wieder abnehmen?“, fragte Mrs Henderson. „Und dann kann ich endlich Ihren Kaffee zubereiten.“
„Ich würde ihn lieber hier in der Küche trinken anstatt im Salon, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin es nicht gewöhnt, mich bedienen zu lassen, in der Küche fühle ich mich wohler.“
Die Haushälterin hatte keineswegs etwas dagegen, und so saßen sie zu zweit am Küchentisch, tranken Kaffee und unterhielten sich, während Cass mit dem Baby auf ihren Armen spielte, das zufriedene, glucksende Laute von sich gab.
„Sie können gut mit ihr umgehen“, lächelte Mrs Henderson versonnen.
„Ich bin früher oft bei unseren Nachbarn als Babysitter eingesprungen“, erklärte Cass.
„Ich habe eben viel zu wenig Erfahrung.“ Mrs Henderson seufzte. „Bob und mir war ein solches Glück eben nicht vergönnt.“
„Sie werden es schon schaffen.“ Diese Worte sollten sowohl Mrs Henderson als auch sie selbst beruhigen.
Cass dachte gerade daran, dass es Zeit sei, aufzubrechen, als das Telefon klingelte. Als die Haushälterin zurückkam, erzählte sie aufgelöst, dass ihr Mann beim Heckenschneiden von der Leiter gefallen sei und sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Er war mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus eingeliefert worden.
„Ich muss zu ihm“, überlegte Mrs Henderson fieberhaft. Aber dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann ja nicht … Das Baby.“
Sie redete eigentlich mehr zu sich, und Cass unterdrückte den Impuls, ihre Hilfe anzubieten. Sie hatte sich geschworen, dass sie sich nicht einmischen würde.
„Was ist mit Camilla, Simons Frau? Könnte sie nicht …?“, schlug sie vor.
Mrs Henderson dachte einen Moment nach. „Ja, vielleicht. Ich rufe sie an.“
Doch dann kam sie mit enttäuschtem Gesicht zurück. „Mrs Camilla hat keine Zeit, sie hat Gäste. Aber sie hat versprochen, später zu kommen und Ellie für die Nacht zu nehmen. Solange werde ich hierbleiben müssen.“
Jetzt konnte Cass einfach nicht mehr anders. „Gehen Sie ruhig. Ich passe auf die Kleine auf, bis Mrs Carlisle kommt.“
„Aber das kann ich nicht von Ihnen verlangen, Sie …“
„Sie verlangen es ja nicht,
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