Julia Extra Band 0193
hinüber.
Ihr Name und ihre Adresse standen darauf, aber dieser Brief war offensichtlich nie abgeschickt worden. Dann erkannte sie die Handschrift.
„Er wurde bei den Sachen deiner Schwester gefunden“, sagte er langsam. „Es schien mir unangebracht, ihn mit der Post zu schicken.“
Cass nickte. Der Schock war auch so groß genug. „Hast du den Brief gelesen?“
Er verzog ironisch das Gesicht. „Ich weiß, du traust es mir nicht zu, aber ich habe auch meine Skrupel.“
„Und Tom?“
Er schüttelte den Kopf. „Tom bat Mrs Henderson, die Haushälterin, Pens Sachen auszuräumen. Dabei hat sie ihn gefunden. Sie übergab ihn mir, in der weisen Voraussicht, dass es Tom nur aufregen würde.“
„Wie geht es ihm?“, fragte sie aus echtem Mitgefühl.
Er zögerte. „Er ist … nicht einzuschätzen.“
Sie fragte sich, was das bedeuten sollte, aber er vertiefte es nicht. Stattdessen fragte er: „Möchtest du wissen, wie es um das Baby steht?“
Ihr Herz und ihr Verstand wurden sich nicht einig. Der eine Teil schrie laut „ja“, der andere ebenso laut „nein“. Also schwieg sie.
Ihr Schweigen deutete er als Gleichgültigkeit, und so fuhr er kühl fort: „Nun, ich werde es dir trotzdem sagen. Das Resultat des Bluttests beweist, dass es eine genetische Übereinstimmung zwischen Tom und dem Baby gibt.“
Cass atmete erleichtert auf. „Also akzeptiert er, dass er der Vater ist.“
„Nicht unbedingt.“ Dray trank von seinem Glas, ohne Cass anzuschauen. „Tom akzeptiert, dass das Baby von einem Carlisle stammt, aber nicht von ihm.“
„Aber wer sollte denn …?“ Cass brach ab und riss die Augen auf.
„Wie ich sehe, kommst du zu dem gleichen Schluss wie mein Bruder.“ Er klang so gelassen, als würde ihn das nicht im Mindesten aufregen.
Warum? Weil es wahr war? Oder weil es nicht stimmte? Aber nein, es konnte unmöglich stimmen. Was immer sie auch von Drayton Carlisle hielt, so etwas würde er seinem Bruder nie antun.
„Warum machst du den Brief nicht auf und liest ihn? Vielleicht ist die Antwort ja darin zu finden.“
Mit zitternden Fingern griff sie zögernd nach dem Umschlag, der wie ein Unheilsbote auf dem Tisch vor ihr lag. Als sie den Umschlag umdrehte, las sie den Satz, den Pen mit fein säuberlicher Handschrift auf die Rückseite geschrieben hatte: „Erst absenden, falls mir etwas zustoßen sollte.“
Mit fahrigen Händen riss Cass den Umschlag auf und zog die gefalteten Seiten hervor. Sie begann zu lesen.
„Meine liebe Cass
,
wenn du diesen Brief liest, dann haben sich die Dinge für mich nicht so entwickelt, wie ich es mir vorgestellt hatte.“
Cass merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie faltete die Blätter hastig wieder zusammen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung erhob sie sich und eilte zu den Toiletten.
Sie musste allein sein, und selbst die leicht heruntergekommenen Toiletten des Pubs waren besser, als diesen Brief unter den prüfenden Blicken Drayton Carlisles zu lesen.
Sie las den Brief zweimal, mit Tränen in den Augen. Typisch Pen. Es war der klassische „Im Falle meines Ablebens“-Brief, aber er war so unbeschwert geschrieben, so, als hätte Pen geglaubt, mit diesem Brief alles Böse abwenden zu können.
Ja, damals, als Pen um Rat zu ihr gekommen war, war sie tatsächlich schon schwanger gewesen. Aber sie wollte das Baby behalten, weil Tom so überglücklich über die Neuigkeit war. Sie ging in ein Londoner Krankenhaus zur Kontrolle, und mit ein bisschen Glück konnte sie Tom über die genauen Daten im Dunkeln lassen. Sie wollte ihm nach der Geburt die Wahrheit sagen, dann wäre er so glücklich, dass er ihr bestimmt alles verzeihen würde.
Falls jedoch etwas schiefgehen sollte, so bat sie Cass, sich darum zu kümmern, dass es dem Baby gut gehen würde. Wie genau sie sich das vorstellte, schrieb sie nicht. Wahrscheinlich vertraute sie darauf, dass der Satz „Sag Tom, dass ich ihn wirklich geliebt habe“ auf magische Weise alle Hindernisse aus dem Weg räumen würde.
Bei dem PS jedoch stutzte Cass.
„Tut mir leid wegen dieser Geschichte mit Dray, aber er war wirklich nicht der Richtige für dich. Einfach zu unberechenbar, ich muss es schließlich wissen. Trotzdem verdammt sexy. Also, pass auf!“
Die Worte rissen alte Wunden auf, und Cass fragte sich, für was Pen sich entschuldigte. Woher hatte Pen gewusst, dass er unberechenbar war? Und dieses „verdammt sexy“ – war das nur ihre Meinung, oder hatte sie es aus erster Hand
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