Julia Extra Band 0193
Musterschüler.”
“Aber als ich Mark fragte, hat er mir etwas ganz anderes erzählt.”
“Wahrscheinlich hat er Ihnen gesagt, dass ich einmal Grillen im Lehrerpult versteckt habe. Aber das war eine Lüge. Ich war es nicht, vermutlich war es Mark selber.”
“Typischer Fall von Schuldverdrängung. Es ist ja auch so einfach, die Schuld dem kleinen Bruder in die Schuhe zu schieben”, spöttelte Zoë. “Haben Sie denn immer in Cumbria gelebt?”
“Nein. Eigentlich stamme ich aus Cheshire. Einmal bin ich in den Ferien an die Seen gereist, und ich bin nicht wieder nach Hause gefahren. Das heißt, ich musste in Cheshire noch alles verkaufen. In jenen Tagen war ich ziemlich impulsiv.”
“Ich nehme an, dass Sie Ihre Frau hier kennengelernt haben und dies der Grund für Ihre spontane Entscheidung gewesen war.”
“Ja, das war der Grund. Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken?”
“Nein danke, lieber würde ich noch ein Glas Wein haben.” Beide griffen gleichzeitig nach der Flasche. Als sich ihre Hände auf dem kühlen Glas trafen, sahen sie einander in die Augen, und Zoë wurde von einer Welle des Verlangens erfasst. Hastig zog sie ihre Hand zurück. Ob er gemerkt hat, welche Gefühle diese kurze Berührung in mir ausgelöst hat? fragte sie sich. Schon am Morgen war sie ganz durcheinandergeraten, als sie aus Versehen in seine Arme gefallen war. Aber das darf nicht sein! rief sie sich zur Ordnung. Ich bin seine Angestellte.
“Ich freue mich, dass wir heute Abend Gelegenheit hatten, uns näher kennenzulernen”, sagte Callum. “Es ist gut zu wissen, dass jemand bei den Kindern ist, dem ich vertrauen kann. Aber Sie werden es hier ziemlich ruhig und langweilig finden, verglichen mit London”, sagte er. “Was haben Sie denn dort gemacht, wenn Sie nicht gearbeitet haben?”
“Das Übliche. Ich habe mich zu einem Drink oder zu einem Abendessen verabredet, oder ich bin ins Theater gegangen. Und ich male gern.”
“Porträts?”
“Nein, lieber Landschaften.”
“Nun, davon haben wir hier genug”, sagte Callum lächelnd.
Sie tranken ihren Wein aus, und Zoë beschloss, sich zurückzuziehen. “Ehe ich es vergesse”, sagte sie noch, “Kyle hat morgen Abend um halb sieben ein Schulkonzert, und er hätte es gern, wenn Sie dabei wären. Es ist sehr wichtig für ihn.”
Callum überlegte einen Augenblick, versprach dann aber doch, zu kommen. Er freute sich, dass Zoë so viel Verständnis für Kyle aufbrachte, überhaupt mochte er alles an ihr.
Sie sah auf die Uhr. “Kann ich noch einmal Ihr Telefon benutzen?”, fragte sie.
“Ja, natürlich.” Es muss eine ziemlich ernste Beziehung sein, wenn sie ihren Freund dauernd anruft, überlegte Callum. Gern sah er das nicht, schon weil ihr Vater nichts von dem jungen Mann hielt. Wie hatte er gesagt: “Matthew Devine ist ein Gauner, nichts anderes.” Hätte Francis all die Mühe auf sich genommen, um seine Tochter hierher in den hohen Norden zu verfrachten, wenn er nicht vor Sorge außer sich gewesen wäre? Ja, er wollte Francis den Gefallen tun und Zoë in Trab halten, bis Francis den Mr Ungeeignet losgeworden war. Zoë wurde gut dafür bezahlt, dass sie ihm den Haushalt führte, und wenn sie diesen Job nicht gewollt hätte, wäre sie nicht gekommen.
Draußen in der Halle versuchte Zoë, ihren Vater zu erreichen. Sie wollte sich ihm nicht beugen, aber sie wollte auch nicht dieses Schweigen zwischen ihnen. Ihre Unterhaltung mit Callum hatte sie dazu gebracht, über ihren Vater nachzudenken. Zugegeben, er war manchmal zu hart und zu anmaßend, aber er liebte sie.
Das Telefon klingelte und klingelte, und schließlich schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Enttäuscht legte Zoë den Hörer auf. Es war fast elf Uhr. Wo war er, fragte sie sich. Bedrückt ging sie ins Wohnzimmer zurück.
“Keine Antwort?”, fragte Callum.
“Nein.”
“Machen Sie sich keine Gedanken. Er ist wahrscheinlich nur ein Bier trinken gegangen.”
“Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich einen Mann angerufen habe?”
“Das haben Sie doch, oder?”
“Ja, aber keinen gewöhnlichen Mann …”
Ein Schrei im oberen Stockwerk beendete die Unterhaltung. Callum lief nach oben und fand Kyle weinend in seinem Bett vor. Er hatte einen Albtraum gehabt. Callum wischte ihm die Tränen ab und wiegte ihn in den Armen, bis er wieder einschlief.
Zoë hatte die Szene durch die offene Tür beobachtet. Callums Zärtlichkeit mit dem Kind rührte sie.
“Ist alles okay?”, flüsterte sie, als
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