Julia Extra Band 0213
der einen so verführerischen Anblick bot. Wie von einer fremden Kraft angetrieben, schlich sie sich leise, um den selig Schlafenden neben sich nicht zu wecken, aus den warmen Federn und Minuten später aus dem Haus.
6. KAPITEL
Das Licht der Lampe, die Kendal bei ihrem letzten Besuch in Chrissies Haus im Schlafzimmer hatte brennen lassen, war das einzige Licht, das in einem Haus dieser Straße brannte, als Kendal dort eintraf.
Begleitet vom Gesang eben erwachender Vögel in der matten Morgendämmerung schloss Kendal Chrissies Haustür auf und riegelte sie hinter sich wieder ab.
Auf dem Telefontischchen im Flur lag noch immer die Ansichtskarte, die Kendal tags zuvor dort hingelegt hatte.
Nun, natürlich liegt die Postkarte noch da, dachte Kendal. Wieso auch etwa nicht …?
Doch ihre Finger zitterten, als sie die Karte nun noch einmal zur Hand nahm. Nur kurz warf sie einen erneuten Blick auf das schöne italienische Landschaftsmotiv, drehte die Karte dann rasch um und las noch einmal genau jede Zeile, die Ralph darauf geschrieben hatte.
Schau, was Du hier verpasst hast. Weil Du mich letzten Donnerstag einfach verlassen hast und unbedingt heimreisen wolltest. Vielleicht war ich völlig egoistisch, wie Du gesagt hast, Chrissie, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit Dir zusammen sein möchte, und deswegen tut es mir leid, Liebling. Vielleicht können wir es irgendwann noch einmal versuchen. Immer der Deine, Ralph.
Also hatten die beiden erneut eine Auseinandersetzung gehabt, und Chrissie verließ ihn abermals. Um zurückzufliegen. Aber wo war sie dann jetzt? Kendal konnte sich aus allem keinen Reim machen.
Die Karte erwähnte den Donnerstag. Kendal rechnete – es konnte sich nur um den Donnerstag der vergangenen Woche handeln. Aber wo war dann Chrissie jetzt, wenn sie nicht mehr bei Ralph war?
Ein kalter Schauder lief Kendal über den Rücken, als sie sich in Erinnerung rief, in welch beängstigendem emotionalem Zustand sich ihre jüngere Schwester bei der letzten Trennung von ihrem Ehemann befunden hatte. Doch damals hatte sie Kendal mindestens drei Mal am Tag angerufen. Bisher hatte sich Chrissie immer, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte, an ihre größere Schwester gewandt. Warum also hatte sie sich diesmal nicht mit ihr in Verbindung gesetzt?
Ob Chrissie womöglich noch allein irgendwo geblieben war? Das erschien Kendal jedoch höchst unwahrscheinlich, denn so etwas wäre ganz untypisch für das Verhalten ihrer Schwester. Was also konnte aber sonst geschehen sein? Wo war sie, wenn sie bereits vor einer Woche Ralph allein gelassen hatte, eben an dem Donnerstag – nur ein Tag, bevor Matthew …
In Kendals Kopf drehte sich plötzlich alles. Ein Gefühl der Panik setzte ein bei der Vorstellung, dass zusätzlich zu Matthew nun auch noch ihrer Schwester etwas passiert sein könnte.
Nun musste sie wieder an Matthew denken und dann daran, dass es immer noch keine Lösegeldforderung gab und man vermutete, dass da jemand ein Baby in seinen Besitz bringen wollte …
Plötzlich lief es Kendal eiskalt den Rücken herunter. Um Himmels willen! Welche Vermutung dichtete sie da gerade in ihrem Hirn zusammen?
“
Nein!”
entfuhr es ihr schrill. Sie ließ die Ansichtskarte fallen und rannte wie besinnungslos in den ersten Stock des Hauses. Zugegeben – Chrissie wollte sehnsüchtig ein Kind. Und ja, sie hatte bereits zwei Fehlgeburten erlitten. Aber sie liebte doch den kleinen Matthew. Wieso kam Kendal da überhaupt auf die verrückte Idee, Chrissie könnte es dem Kleinen angetan haben, ihn seiner Mutter wegzunehmen?
Jetzt entfuhr ihr ein leiser Seufzer. Langsam wurde sie wohl paranoid. Da hatte Jarrad wohl ganz recht. Denn wie sonst käme sie zu der Wahnvorstellung, dass ihre Schwester der Täter war? Chrissie eine Kindesentführerin? Das schien nun wirklich absurd!
Nervös begann Kendal, nach Chrissies Reisetasche zu schauen. Doch nichts dergleichen war zu finden. Wie auch, dachte Kendal, wenn ihre Schwester wahrscheinlich irgendwohin gefahren war, um sich von der abermaligen schmerzhaften Trennung von ihrem Mann zu erholen?
Ganz sicher hast
doch du
gestern diese Lampe da brennen lassen, schoss es Kendal durch den Kopf. Ja, darauf hatte sie geachtet, auch wenn ihr derzeit so viel anderes auf der Seele lag.
“Nein. Das kann nicht sein!”, murmelte sie entsetzt vor sich hin und sank auf dem Ehebett nieder, das ihre Schwester und Ralph in glücklicheren Zeiten geteilt hatten. Aber wo mochte
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