JULIA EXTRA BAND 0274
Züge des alten Mannes wurden weicher. „Dann sindSie Lily und Rose“, sagte er leise.
Irritiert wechselten die beiden einen Blick. „Ja“, erwiderte Lily. „Woher wissen Sie unsere Namen?“
„Ich bin Bart Standish, Laurels Adoptivvater.“ Er brach ab. Erst nach einer langen Pause sprach er weiter. „Meine Frau und ich … Wir haben Sie im Waisenhaus gesehen, als wir Laurel abholen kamen. Wir … Wenn wir gekonnt hätten, dann hätten wir Sie damals alle drei mitgenommen. Aber das war leider nicht möglich – aus finanziellen Gründen.“
Rose biss sich auf die Lippe, um ein Zittern zu unterdrücken. Lily antwortete an ihrer Stelle. „Wir verstehen, bitte machen Sie sich keine Vorwürfe. Wusste Laurel, dass sie zwei Schwestern hat? Sie war nicht einmal zwei Jahre alt, als wir ins Waisenhaus kamen.“
Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Meine Frau wollte ihr nichts sagen. Lange Zeit wusste Laurel nicht einmal, dass sie adoptiert war. Dann starb meine Frau und …“ Er trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. „Vielleicht ist es besser, Sie kommen herein.“
Höflich führte er sie in ein bescheiden eingerichtetes Wohnzimmer und bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen. „Ich bin gleich wieder da“, versprach er und verließ den Raum. Nach kurzer Zeit kam er mit einem Fotoalbum und einem Buch in den Händen zurück. „Ich denke, das gehört jetzt Ihnen.“
„Was ist das?“, fragte Rose.
Mit klopfendem Herzen schlug Lily das Album auf. „Unsere Eltern“, antwortete sie leise. „Schau.“ Sie zeigte ihrer Schwester ein Foto.
Das Bild zeigte einen Mann und eine Frau, in deren Gesichtern die Schwestern eine perfekte Mischung ihrer eigenen Züge wiederfanden. Der Mann hatte Roses hohe Stirn, die Frau Lilys mutwilliges Lächeln. Fast erschien es beiden, als schauten sie in einen Spiegel.
„Das war im Waisenhaus“, erklärte Mr. Standish, als wolle er ihnen die Frage ersparen, wo das Buch und das Album herkamen. „Laurel erhielt diese Erinnerungsstücke erst vor zwei Jahren. Sie nahm sie mit nach Europa. Nach dem Flugzeugabsturz wurden sie mir mit ihren übrigen Sachen zugeschickt.“
Rose nahm das Buch zur Hand und öffnete es. Allem Anschein nach war es ein Tagebuch, in dem die meisten Seiten unbeschrieben waren. Doch auf dem ersten Blatt hatte jemand einen Brief geschrieben. „Für Rose, Lily und Laurel“, stand da.
Lily, die Rose über die Schulter schaute, wandte sich ab. Ein Gefühl hilflosen Zorns stieg in ihr auf. So viele Jahre hatten sie herauszufinden versucht, woher sie stammten und wer ihre Eltern waren. Während der ganzen Zeit lagen diese Zeugnisse ihrer Vergangenheit in einem Schrank des Waisenhauses und verstaubten. War es niemandem in den Sinn gekommen, Nachforschungen nach ihr und Rose anzustellen?
Der alte Mann schien zu ahnen, was in ihr vorging. „Nehmen Sie das Buch und das Album mit nach Hause“, sagte er. „Sie gehören Ihnen. Der Brief ist von Ihrer Mutter. Darin steht, dass Ihr Vater kurz vor Laurels Geburt bei einem Unfall ums Leben kam und dass sie nicht in der Lage war, Sie alle drei allein großzuziehen. Deshalb hat sie Sie vor die Kirche gebracht und gewartet, bis Schwester Gladys kam und Sie ins Waisenhaus mitnahm. Später hat sie dann das Tagebuch und das Album ans Heim geschickt.“
Tief erschüttert, brachte Lily kein Wort hervor. Als sie sich gefangen hatte, fragte sie mit heiserer Stimme: „Warum haben wir bis heute nichts davon gewusst? Warum hat niemand sich die Mühe gemacht, nach uns zu suchen, um uns über unsere Herkunft aufzuklären?“ Sie sah ihre Schwester an, dann Mr. Standish.
Der alte Mann senkte den Kopf. „Ich wünschte, meine Frau und ich hätten Laurel von Ihnen erzählt. Es tut mir leid, glauben Sie mir.“
„Sie wusste also nichts von uns“, warf Rose betroffen ein.
„Nur was sie in dem Tagebuch gelesen hat. Und das war, wie gesagt, erst vor zwei Jahren.“
Wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen, sahen sie ihm an. Auch wenn seine Augen trocken blieben. Lily schloss das Album und reichte es ihrer Schwester. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie uns von Laurel erzählen können, Mr. Standish?“
Nachdem er nachdenklich geschwiegen hatte, schüttelteer den Kopf. „Ich glaube nicht. Sie war sportlich veranlagt, mochte gern Kinder und Tiere. Mehr weiß ich nicht. Durch meinen Beruf war ich fast immer unterwegs. Manchmal, wenn ich heimkam, erkannte ich sie kaum wieder. Sie oder ihre Mutter. Heute bedauere ich
Weitere Kostenlose Bücher