JULIA EXTRA Band 0286
sie das Essen einfach ganz bleiben. Problemlos nahm sie die fünf Pfund für einen Werbespot ab, um die ihr Agent sie gebeten hatte. Mit etwas mehr Make-up als sonst kaschierte sie die dunklen Ringe unter den Augen, die von zu wenig Schlaf herrührten.
Denn wenn sie schlief, träumte sie. Von Miguel. Es waren keine Albträume, ganz im Gegenteil. Immer wieder aufs Neue erlebte sie jeden einzelnen Moment in seinen Armen, und wenn sie aufwachte, empfand sie solche Schmerzen, als würde ihr jemand einen Amboss auf die Brust drücken. Nicht zu schlafen, war weitaus einfacher als mit den Qualen beim Aufwachen umzugehen.
Auf dem Weg zu einem Shooting überwältigte Amber die Müdigkeit der letzten Wochen. Erst im örtlichen Krankenhaus kam sie wieder zu sich. Ihr ganzer Körper tat weh, doch schien nichts gebrochen. Es fühlte sich vielmehr so an, als leide sie unter einer besonders schmerzhaften Periode.
Stöhnend schlug sie die Augen auf.
„Miss Taylor?“
Ein Arzt – zumindest hielt sie ihn für einen Arzt – betrat das Zimmer.
„Ja?“, erwiderte sie schwach.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Nicht so gut.“
„Nun, es könnte wesentlich schlimmer sein. Als Sie eingeschlafen sind, ist Ihr Fuß vom Gaspedal gerutscht. Vermutlich hat sich der Unfall bei einer Geschwindigkeit von weniger als dreißig Meilen ereignet.“
„Ist noch jemand verletzt worden?“
„Nein. Wie fühlen Sie sich?“, fragte der Arzt noch einmal.
„Mir tut alles weh. Vor allem der Unterleib.“
„Es tut mir sehr leid, Miss Taylor.“
Der mitfühlende Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er damit nicht nur die Bauchkrämpfe meinte. „Was ist passiert?“
„Sie haben Ihr Baby verloren.“
„Baby?“ Sie war schwanger gewesen? Aber sie und Miguel hatten doch immer aufgepasst!
„Sie wussten nichts von der Schwangerschaft?“
„Nein.“
„Das erklärt natürlich, warum Sie so nachlässig für sich gesorgt haben.“
Amber starrte den Arzt an. Die leise Kritik hallte durch ihren Kopf. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ein Baby erwartete. Sie hatte nicht auf das Baby aufgepasst. Ihr Baby war tot, weil sie hinterm Lenkrad eingeschlafen war.
Als sie sich aufrichten wollte, ahnte der Arzt, was sie brauchte. Er reichte ihr eine Plastikschüssel, in die sie sich übergab. Dann sank sie zurück in die reinen weißen Bettlaken.
Ein paar Stunden später bestand sie darauf, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Sie rief ihren Agenten an und erzählte ihm einen Teil der Wahrheit, nämlich, dass sie einen Unfall gehabt hatte. Ihrer Mutter sagte sie gar nichts. Stattdessen fuhr sie nach Hause und bereitete sich auf das Fotoshooting am nächsten Tag vor.
Die Übelkeit verschwand nicht mit dem Ende ihrer Schwangerschaft. Allein bei dem Gedanken an Essen wurde ihr schlecht. Sie zwang sich zu schlafen, obwohl das Aufwachen sie immer noch schmerzte.
Am fünften Tag, nachdem sie ihr Baby verloren hatte, klingelte ihr Handy. Es war Miguel.
„Ruf mich nie wieder an“, sagte sie mit einer Stimme, die selbst in ihren Ohren tot klang, und legte auf.
Drei Wochen später bestellte ihr Agent sie in sein Büro. Er schäumte vor Wut, als er einen Stapel Fotografien vor ihr auf den Schreibtisch knallte.
„Was, zum Teufel, ist das, Amber?“
Sie betrachtete die Bilder und versuchte herauszufinden, was ihn so wütend machte. Ihr Lächeln stimmte. Die Pose entsprach genau der, um die der Fotograf sie gebeten hatte. Fragend schaute sie ihn an.
„Du siehst aus wie ein Skelett.“
„Du hast mich doch gebeten, für den Werbespot abzunehmen.“
„Damit meinte ich ein paar Pfund, Schätzchen. Verdammt, möchtest du mir nicht erzählen, warum du dich langsam umbringst?“
„Das tue ich gar nicht.“
„Dann erklär mir das!“ Aufgebracht wedelte er mit den Fotos.
Amber zuckte mit den Schultern. „Ist der Kunde nicht zufrieden?“
„Er weigert sich, die Bilder zu verwenden, und hat ein anderes Model engagiert.“
„Oh. Vielleicht sollten wir uns dann auf Werbespots konzentrieren?“
„Du bist aber keine Schauspielerin, Amber Taylor, sondern ein Model. Und in Kürze wirst du ein totes Model sein, wenn du nicht endlich anfängst zu essen.“
Darauf fiel Amber keine Antwort ein. Sie würde doch nicht sterben. Schön, sie hatte etwas Gewicht verloren, aber das war auch alles. „Ich versuche, wieder ein paar Pfund zuzunehmen.“
„Gut.“
Aber sie brachte es nicht über sich, wieder mit dem Essen anzufangen. Sie empfand nichts.
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