Julia Extra Band 0292
Carramer. Vor zweitausend Jahren hatten sie die Inseln von den Philippinen und Indonesien aus übers Meer erreicht.
In der Nähe des Wasserfalls war der Boden so rutschig, dass Carissa fast ausglitt. Eduard legte ihr den Arm um die Taille, und Carissa war dankbar für die Stütze, aber nicht für die schwindelerregenden Empfindungen, die sie aufgrund der Nähe zu ihm durchrasten.
Einen Moment später hatte sie die Höhlenöffnung erreicht. Der umgebende Felsen war mit Farnen und blühendem Springkraut bedeckt. „Was genau soll man machen, wenn man hinter dem Wasserfall ist?“, fragte Carissa.
„Dies.“ Eduard zog sie an sich.
Ihre Sinne wurden schärfer, überfluteten sie mit dem Duft von Ingwer, dem frischen Mineralgeschmack des Wassers, der Glätte von nasser Haut an nasser Haut. Als Eduard den Kopf neigte, wusste sie, dass sie sich nicht küssen lassen sollte. Aber als er ihre Lippen berührte, verloren sich ihre Gedanken in purem Verlangen.
Schließlich sah Eduard auf, und sein leidenschaftlicher Blick drohte sie zu verzehren. Doch er setzte den Kuss nicht fort. Stattdessen liebkoste er ihr Gesicht und ihren Hals mit seinen Lippen, bis Carissa die Sinne zu schwinden drohten.
Eduard spürte ihre Schwäche und führte sie zurück zu dem umgestürzten Baumstamm, wo sie zusammenbrach. „Was hast du mit mir gemacht?“, fragte sie.
„Nicht ich, die Mayat-Geister. Wenn der Begrüßungskuss in der Höhle vollzogen wird, sollen die Mayat den Menschen angeblich Energie entziehen, um sich neu zu beleben. Manche Leute spüren überhaupt nichts, andere schwören, dass sie vom Blitz getroffen worden seien. Ich bin schon oft hier gewesen und habe nichts gemerkt. Und ich habe nie gehört, dass außerhalb der Höhle etwas passiert ist.“
„Also decken sie sich mit unserer Kraft ein, und wir haben dann weiche Knie.“
„Dafür geben sie uns etwas zurück.“ Eduard zögerte, als würde er ihr den Rest nur ungern erzählen.
„Na los, was ist es? Perfektes Haar? Unsichtbarkeit?“
„Liebe. Die einen behaupten, die Wirkung lasse einen eine verlorene Liebe wiedergewinnen. Die anderen sagen, dass man die Liebe findet, nach der man sucht.“ Eduard sah verlegen aus.„Keine Sorge, es ist nur eine Legende. Wahrscheinlich glaubst du, etwas gespürt zu haben, weil du noch nicht völlig gesund bist.“
„Ja, wahrscheinlich“, stimmte Carissa zu. Aber sie bezweifelte es. Eher wäre Eduards Wirkung auf sie eine Erklärung für ihr Schwächegefühl. Ihn hatte der Moment vor der Höhle anscheinend unberührt gelassen. Carissa wurde wütend. Wie konnte sie so erschüttert sein, während Eduard aussah, als hätte er nur die Landschaft bewundert?
Offensichtlich empfand er für sie nicht so viel wie sie für ihn. Er hatte die Teenagerverliebtheit erfolgreicher überwunden als sie. Carissa stand auf. „Du hast sicher recht. Ich habe mir das alles nur eingebildet.“
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er sie. „Du bist verärgert.“
Natürlich war sie verärgert. Sie war durch den Regenwald marschiert, von einem Wasserfall durchnässt und von Geistern verwirrt worden. Und Eduard hatte nichts gefühlt. „Ich bin nur müde“, behauptete sie.
„Hat es dir heute nicht gefallen?“
Die Wanderung war ein ganz besonderes Erlebnis gewesen, das sie gern wiederholen würde. Aber den Kuss und seine verheerenden Nachwirkungen brauche ich nicht, sagte sie sich. Doch der Regenwald und der Wasserfall hatten sie bezaubert.
„Es hat mir gefallen“, gab Carissa zu.
„Schön. Das freut mich.“ Eduard beugte sich zu ihr und küsste sie flüchtig auf die Wange, bevor er sich den Rucksack über die Schulter hängte.
Eine Zeit lang ging Carissa schweigend neben Eduard her und ließ den Frieden des Regenwalds beruhigend auf sich wirken. „Der Rückweg kommt mir kürzer vor“, sagte sie schließlich.
„Das liegt daran, weil du unterwegs nach Hause bist“, erwiderte Eduard.
Wenn es doch nur so wäre! Sie würde den Landsitz vermissen. Energisch straffte Carissa die Schultern. Sich dem Selbstmitleid hinzugeben kam nicht infrage. Irgendwie würde sie ein Zuhause für sich und ihr Kind finden. Etwas so Besonderes wie Tiga Falls Lodge würde es nicht sein, aber diesmal würde sie sichergehen, dass niemand es ihr wegnehmen konnte.
4. KAPITEL
Eduard drehte sich um, streckte die Hand aus und half Carissa die steile Treppe zum Dachboden hinauf. Sein Griff fühlte sich warm und fest an. Seit sie vor zwei Tagen vom Wasserfall
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