Julia Extra Band 0293
ein Minenfeld betreten.
„Gut?“ Er dachte kurz darüber nach. „Der Heimleiter hing an der Flasche, und unter den Kindern herrschte eine gnadenlose Rangordnung. Unterdrücken oder unterdrückt werden.“
Das erklärte Einiges! Susan fühlte Julians Schmerz, als wäre es ihr eigener. Wie konnte ein Mensch nach so harten Erfahrungen so zauberhafte Gebäude planen und bauen?
„Wie lange warst du in diesem Heim?“
„Acht Jahre. Niemand wollte mich adoptieren.“ Seine Stimme klang so wenig lebendig, dass Susan ihn am liebsten geschüttelt hätte, um ihn wieder ganz zu sich zu bringen. „Danach kam ich in eine Pflegefamilie. Der Vater war Tischlermeister, und er hat mich zu seinem Praktikanten gemacht.“
„Hatte er wenigstens ein gutes Herz?“
„Nicht besonders.“ Er machte eine kleine Pause und lachte dann trocken. „Nein, nicht besonders.“
Das klingt alles andere als gut, dachte sie erschrocken. Susan beschloss, nicht weiter in der alten Wunde herumzustochern.
„Aber er hat dich zur Architektur gebracht?“, fragte sie ermunternd.
„So könnte man es vermutlich sagen“, antwortete er ausweichend. „Er hat mir vieles beigebracht.“ Julian seufzte. „Als ich achtzehn war, meldete ich mich auf einer angesehenen Hochschule an. Natürlich hatte ich kein Geld, aber mit meinen ungewöhnlichen Entwürfen konnte ich mich leicht für ein Stipendium bewerben. Und ich hatte Erfolg damit, man sprach mir das Stipendium zu. Nur wusste ich es nicht, weil mein Pflegevater den Brief abgefangen hat. Er behauptete, ich wäre abgelehnt worden, damit er seinen billigen Praktikanten nicht verlor. Ist das zu glauben?“
Für ein paar Sekunden schloss Susan betroffen die Augen, dann riss sie sich energisch zusammen. „Du bist zur Abendschule gegangen, um deinen Abschluss zu machen?“
„Ja. Und Giftzwerge wie Stears können es nicht ertragen, wenn sich jemand aus eigener Kraft hochgearbeitet hat. Aber schließlich bin ich es gewohnt, Feinde zu haben. Mir macht es nichts mehr aus.“
Sie nickte verständnisvoll. Kein Wunder, dass Gebäude und Baustellen ihm inzwischen wichtiger waren als Menschen. Sie verletzten und benutzten einen wenigstens nicht.
„Jahre später, als ich meinen ersten größeren Auftrag feierte, begegnete ich zufällig jemandem vom Hochschulausschuss, der sich an meinen Namen erinnerte. Er wunderte sich darüber, dass ich das Stipendium nicht akzeptiert hatte.“
„Hast du deinen Pflegevater zur Rede gestellt?“
„Ja, und er hat alles zugegeben. Susan, ich hätte es wissen sollen. Ich hätte merken müssen, dass er mich all die Jahre nur für seine Zwecke missbraucht hat.“ In seinen Augen glitzerte es verdächtig. „Menschen sind Egoisten, Susan. Man kann lügen, vortäuschen, betrügen oder Leute bestechen – es läuft immer aufs Gleiche hinaus. Damit bin ich aufgewachsen, und bisher habe ich nichts anderes als das erlebt.“
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Nicht alle Menschen sind so, Julian.“
„Wenn du wüsstest“, unterbrach er sie barsch. „Ich habe dich mit in die Karibik genommen, um durch dich an mein Ziel zu kommen. Ich wollte dir schmeicheln, dich sogar verführen, um dich gefügig zu machen.“ Er wandte sich ab. „Und mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Du warst so unschuldig und misstrauisch. Ich musste mich richtig anstrengen, um dich hinters Licht zu führen. Und heute hatte ich wieder vor, dich auszunutzen. Alles war geplant. Ich wusste, wie vorsichtig ich vorzugehen habe, um dich erneut zu überzeugen.“
Sie versuchte, etwas zu sagen, doch es kam kein Wort über ihre Lippen.
„Ich war gut vorbereitet“, fuhr er voller Ironie fort. „Mir war klar, dass ich einen anderen Kurs als beim letzten Mal fahren muss. Ich wollte zugeben, dass ich furchtbar falschgelegen habe. Wollte dir zeigen, wie offen, ehrlich und verletzlich ich sein kann. Und ich wollte dir sogar sagen …“ Er stockte. „Ich wollte dir sagen, dass ich dich liebe.“
„Aber das tust du nicht“, stieß sie leise hervor.
Julian zuckte die Achseln. „Jan Hassell kommt morgen Abend zum Dinner in die Stadt. Er will uns treffen, weil Stears ihm erzählt hat, wir wären nicht verheiratet. Nun möchte er sich selbst überzeugen.“
Es fiel Susan schwer, das Gehörte zu verkraften. „Und du dachtest, wenn du mir deine Liebe gestehst, mache ich wieder mit?“
„Hättest du es getan?“
Mühsam unterdrückte sie ihre Tränen. „Ja, vermutlich schon.“
„Siehst du?
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