Julia Extra Band 0293
Egoismus. Als mildernden Umstand kann ich nur anführen, dass ich noch sehr unreif war.“
„Richtig!“, stimmte er ihr gleichmütig zu.
Nun wurde sie wütend, versuchte aber, sich zu beherrschen. Immerhin hatte er damals von der ganzen verfahrenen Angelegenheit reichlich profitiert! Beim Abschied hatte er den Scheck noch in der Hand gehalten … und ihr dann nur nachgeschaut, ohne zu versuchen, sie aufzuhalten!
Aber hier ging es um ihr Verhalten, nicht um seins.
„Ich möchte dich um Verzeihung bitten“, sagte sie leise.
„Warum? Ich meine, warum jetzt nach zehn Jahren?“, wollte er wissen. „Sei mir nicht böse, aber ich vermute irgendwelche Hintergedanken bei dir.“
Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster: eine junge Frau mit kurzem dunklen Haar und einem Ausdruck in den Augen, der Selbstvertrauen und Entschlossenheit verriet.
„Ich habe mich geändert, das ist alles“, erklärte sie schließlich.
Eine Weile schwieg er, bevor er erwiderte: „Ich auch, Claire. Ich bin nicht mehr wie früher. Also ruf mich nicht mehr an, außer es geht um Geschäftliches. Ich bin immer gern bereit, deinem Vater einen Kostenvoranschlag für die neuesten Sicherheitssysteme zu schicken, egal, ob für seine Produktionsanlagen hier oder im Ausland.“
„Es würde dir nichts ausmachen, sein Geld zu nehmen?“, erkundigte sie sich, obwohl sie die Antwort doch kannte.
„Überhaupt nichts! Mach’s gut, Claire.“
„Ethan, ich …“ Aber er hatte schon aufgelegt.
Sie war unendlich enttäuscht, und das hatte sie nicht erwartet. Alle möglichen Empfindungen hatte sie sich ausgemalt, wenn sie wieder Kontakt mit Ethan aufnahm, aber sich nicht vorgestellt, kühl abgewiesen zu werden.
Er hatte ihre aufrichtige Entschuldigung gar nicht angenommen! Im Gegensatz zu dem Scheck damals! Ja, den hatte er gern akzeptiert.
Claire ging in ihrem Apartment auf und ab, zu ruhelos, um sich zu setzen. Außerdem gab es noch immer wenig Sitzmöglichkeiten. Sie hatte eine Couch, eine Chaiselongue und einige Stühle fürs Wohnzimmer bestellt, aber die waren noch nicht geliefert worden.
In der tristen Umgebung fühlte sie sich plötzlich unendlich allein.
Schließlich ging sie ins Schlafzimmer, wo jetzt immerhin eine große Matratze auf dem Boden lag, daneben stand eine Kiste als Nachttisch.
Beim Anblick dieser provisorischen Schlafgelegenheit dachte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder daran, wie es gewesen war, neben Ethan zu liegen. Im Schlaf hatte er den Arm über sie gelegt, keine besitzergreifende Geste, sondern eine fürsorgliche. Er war zärtlich und geduldig gewesen. Und äußerst sexy.
Er hatte ihr versprochen, sie glücklich zu machen. Sie hatte ihm dasselbe versprochen. Dieses Versprechen hatten sie genauso wenig gehalten wie das Gelübde, bis ans Ende ihrer Tage zusammenzubleiben …
Wütend auf ihn, und mehr noch auf sich selbst, warf Claire ihre Trainingssachen in die Sporttasche und verließ die Wohnung, um ins Fitnessstudio zu gehen. Dort würde sie ihren Frust und ihre Wut auf dem Hometrainer abarbeiten, nahm sie sich vor.
Eine Stunde später, als sie mit Tempo in die Pedale trat, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie, genau wie bei Ethan, sich fürchterlich anstrengte – und trotzdem nicht weiterkam. Sie trat, im wahrsten Sinn des Wortes, auf der Stelle.
Ethan hatte geglaubt, seit seiner unüberlegten, kurzlebigen Ehe gute Fortschritte gemacht zu haben. Aber es hatte genügt, Claires Stimme zu hören, und schon stand er wieder am Rand des Abgrunds, in den er zehn Jahre zuvor gestürzt war.
Seit ihrem Anruf waren bereits zwei Stunden vergangen, und noch immer konnte er seine Erinnerungen nicht verdrängen. Ihre Entschuldigung hatte ihn völlig überrascht, und noch verblüffender war, dass sie nicht abstritt, ihn damals benutzt zu haben. Außerdem hatte sie die Schuld an ihrer katastrophalen Ehe nicht ihm zugeschoben, sondern die Verantwortung für ihr, wie sie selbst sagte, unreifes und selbstsüchtiges Verhalten übernommen.
Warum fühle ich mich dann jetzt nicht besser? fragte Ethan sich.
Warum hatte er ihre Entschuldigung nicht akzeptiert und einen Schlussstrich unter die ganze Angelegenheit gezogen?
Warum saß er noch immer grübelnd an seinem Schreibtisch?
Vielleicht, weil Claire behauptet hatte, sie habe sich geändert. Das machte ihn neugierig.
Inwiefern war sie jetzt anders? Hatte sie plötzlich ein Gewissen entwickelt? Hatte sie sich vielleicht in den vergangenen Jahren manchmal gefragt,
Weitere Kostenlose Bücher