Julia Extra Band 0293
subtile, aber wirksame Vergeltung für alles, was die Mayfields ihm angetan hatten.
Natürlich waren Ethans Ehrgeiz und Hartnäckigkeit schon vor zehn Jahren unübersehbar gewesen. Diese Eigenschaften hatte Claire bewundert und respektiert. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, und Wörter wie „nein“ und „Ich kann das nicht“ schienen nicht zu seinem Wortschatz zu zählen.
Er war so ambitioniert gewesen, so zielstrebig! So … enttäuschend.
Plötzlich wurde sie wütend, als ihr einfiel, woher er das Kapital zur Gründung seiner Firma hatte. Damals sah Claire, wie ihr Vater den Scheck ausstellte, konnte die beachtliche Summe lesen, die darauf stand, zahlbar an Ethan Seaver – unter einer Bedingung: dass er sich schnellstens und ohne Aufhebens aus ihrem Leben davonmachte.
Sie hatte ihn für den einen Menschen gehalten, der immun wäre gegen das anmaßende, herrische Benehmen ihres Vaters! Den einen Menschen, der zu stolz wäre, sich von den Mayfields mit Geld abfinden zu lassen.
Doch genau das hatte Ethan getan. Er stimmte nicht nur der sofortigen Scheidung zu, sondern auch der Bedingung, die Ehe geheim zu halten. Dann war er aus Claires Leben verschwunden.
Mühsam zügelte sie nun ihren Zorn. Es kam ja nicht mehr darauf an, was damals geschehen war. Inzwischen stand sie auf eigenen Füßen. Das hätte sie schon früher versuchen sollen, anstatt einen Außenstehenden in ihre problematischen Familienbeziehungen zu verwickeln.
Nochmals musterte sie Ethans Bildschirmporträt und hätte schwören können, dass er auf dem Bild genauso vorwurfsvoll aussah wie bei ihrem letzten Zusammensein.
„Warum, zum Kuckuck, hast du mich überhaupt geheiratet, Claire?“, hatte er herausfordernd gefragt.
Sie war ihm die Antwort schuldig geblieben.
„Es tut mir leid, Ethan“, sagte sie nun leise.
Bedauern allein hilft nicht, hätte Belle in diesem Fall gesagt, dachte Claire lächelnd. Simone hätte dazu melodisch gelacht …
Sie vermisste ihre Freundinnen so sehr! Natürlich hatte sie genug andere Freunde und Bekannte, aber bisher hatte sie niemandem ihr beschämendes Geheimnis anvertraut.
In dem Moment signalisierte ihr Laptop, dass neue E-Mails eingetroffen seien.
Claire öffnete sie sofort. Die erste war von Simone, und die Betreffzeile klang ominös: Tagebuch verschwunden.
Simone, die als Redakteurin für eine schicke Frauenzeitschrift arbeitete, hatte sich während der Radtour ausgiebig Notizen gemacht, weil sie einen Artikel über die Reise schreiben wollte. Dass auch ihre neuen Freundschaften und die Probleme der drei Frauen erwähnt worden waren, machte den Verlust des Tagebuchs kritisch.
Belle hatte in ihrer Mail angeboten, ihre eigenen Aufzeichnung zur Verfügung zu stellen und die Vermutung geäußert, das Tagebuch wäre bestimmt schon in einem Müllcontainer gelandet.
Hoffentlich! dachte Claire beklommen und las weiter.
Belle schlug sie offensichtlich um Längen, was den Beginn eines neuen Lebens betraf. Sie hatte ihren Mann Ivo verlassen und war aus dem luxuriösen Stadthaus in Belgravia in ihr kleines Apartment in Camden gezogen, das sie sich vor der Heirat gekauft hatte. Außerdem hatte sie sich von ihren platinblonden Locken getrennt, die quasi ihr Markenzeichen waren, und trug nun einen flotten Stufenschnitt in verschiedenen Blondtönen, der viel natürlicher aussah und ihr zartes Gesicht viel besser zur Geltung brachte, wie das beigefügte Foto bewies.
Zuerst schrieb Claire an Simone und tröstete sie mit dem Hinweis, dass vermutlich niemand die Notizen im Tagebuch mit ihr in Verbindung bringen würde, denn sie hatte ja nicht ihren Namen und ihre Adresse vorn eingetragen. Der Reisebericht war also sozusagen anonym, und welcher Fremde würde sich schon dafür interessieren.
Dann berichtete sie, dass sie aus der Wohnung ausgezogen sei und nun in einem noch fast leeren Apartment wohnte, sogar ohne Bett, also beinah so spartanisch wie auf der Radtour. Außerdem habe sie schon ihren Exmann ausfindig gemacht, erzählte sie weiter. Sie fügte einen Link zu seiner Webseite hinzu, damit die beiden Freundinnen sich selbst ein Bild von ihm machen konnten.
Prompt antwortete Belle, die anscheinend gerade Online gewesen war und Claires Mail sofort gelesen hatte.
Das ist ja wirklich ein erstklassiges Exemplar von einem Mann, meine Liebe. Kein Wunder, dass du dich damals zu ihm hingezogen gefühlt hast.
Beim Gedanken an sein Gesicht und an seine schmalen, zärtlichen Hände wurde Claire von
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