Julia Extra Band 0302
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, in Lie be, Mum und Dad.
Aimi holte tief Luft. Sie hatte tatsächlich vergessen, welcher Tag heute war. Jedes Jahr schickte Loris Mutter diese Geburtstagskarte an Aimi als grausame Erinnerung daran, dass sie ihrer eigenen Tochter nicht mehr gratulieren konnte. Und jedes Mal war Aimi tief erschüttert.
„O Gott!“ Aimi presste eine Hand auf ihren Magen und unterdrückte einen Anflug von Übelkeit. Der Zeitpunkt, verbunden mit Aimis eigenen Schuldgefühlen, die gerade wieder mit aller Wucht zurückgekehrt waren, hätte schlimmer nicht sein können. Aimi brauchte frische Luft, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
Mit Tränen in den Augen legte sie die Glückwunschkarte auf den Küchenschrank zurück und ging zur Tür. Als sie am Schlafzimmer vorbeikam, zögerte sie kurz und betrachtete Jonas, der noch immer friedlich schlief. Er hatte sie so wunderbar getröstet in der Nacht, und sie hatte sich vor den Dämonen so sicher gefühlt. Doch sie wusste jetzt, dass er sie nicht beschützen konnte. Das musste sie allein durchstehen.
Unsicher drehte sie sich um und nahm ihre Tasche, die noch im Flur lag. Zunächst fühlte sie sich vollkommen ziellos. Doch dann wusste sie, was sie tun musste. Sie brauchte die Gewissheit, dass ihr Glück mit Jonas kein Verrat an Lori war. Doch die Einzige, die ihr diese Bestätigung hätte geben können, war tot. Wenn Lori hier wäre … Doch das war sie nicht – nur ihre Eltern.
Aimi setzte sich aufrecht hin und atmete tief durch. Loris Eltern. Mrs. Ashurst hatte Aimi ebenso für Loris Tod verantwortlich gemacht, wie sie sich selbst die Schuld am Tod ihrer Freundin gab. Und offensichtlich hatte sie ihr noch nicht verziehen, das zeigten die Karten, die sie Jahr für Jahr erhielt. Doch vielleicht, wenn sie mit Loris Mutter sprach und versuchen könnte, zu erklären, was wirklich geschehen war – vielleicht könnte sie dann endlich den inneren Frieden finden, nach dem sie sich so sehr sehnte.
Aimi hielt Ausschau nach einem Taxi, das sie zum Haus der Ashursts bringen würde. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie die breite Treppe zur Eingangstür hinaufging. Früher war sie hier ein und aus gegangen, Loris Mutter war immer freundlich gewesen. Sicherlich würde sie ihr jetzt wenigstens zuhören.
Mrs. Ashurst öffnete selbst, und als sie Aimi erblickte, wandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Starr und unbewegt sah sie die Besucherin an. „Oh, du bist es“, sagte sie kühl, und Aimis Mut sank. Doch sie zwang sich zu bleiben.
„Haben Sie einen Moment Zeit für mich, Mrs. Ashurst?“, fragte sie mit rauer Stimme. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Unnahbar hob Loris Mutter die Augenbrauen. „Was sollten wir zu besprechen haben?“, fragte sie und machte keinerlei Anstalten, Aimi ins Haus zu bitten.
„Bitte, Mrs. Ashurst, ich muss mit Ihnen über Lori sprechen. Könnten wir …“ Weiter kam sie nicht.
„Du wagst es, ihren Namen auszusprechen! Lori ist tot. Du hast sie umgebracht.“ Der Zorn und die Bitterkeit waren noch so stark wie am ersten Tag, und Aimi spürte, wie sie innerlich zitterte.
Sie schluckte heftig, und ihre Stimme schwankte, als sie antwortete. „Ich weiß, dass es meine Schuld war. Doch seit diesem schrecklichen Unglück sind neun Jahre vergangen, und ich hatte gehofft, wir könnten endlich darüber reden.“
Loris Mutter schenkte ihr ein vernichtendes Lachen. „Ich weiß, was du hoffst, Aimi Carteret! Du glaubst, du kannst hierherkommen und mir sagen, dass es dir leidtut, und ich vergebe dir. Nein, ich werde dir nie vergeben! Du hast meine Tochter getötet. Sie ist dir gefolgt wie ein Sklave und hat alles getan, was du wolltest. Es zerreißt mir das Herz zu sehen, wie gut es dir geht, während sie …“ Ihre Stimme erstarb, sie rang nach Luft.
Plötzlich nahm ihr Gesicht einen bösartigen Ausdruck an. „Es ist mir egal, ob es dir leidtut. Das bringt mir meine Tochter nicht zurück. Geh! Verlass dieses Haus! Ich will dich nie wieder sehen!“ Und damit schlug sie die Haustür zu.
Bestürzt und wie betäubt drehte Aimi sich um und ging Stufe für Stufe hinunter. Mit solch unverhohlener Gehässigkeit hatte sie nicht gerechnet. Sie spürte, wie die Worte, die Loris Mutter ihr entgegengeschleudert hatte, in ihr Herz schnitten und jede Hoffnung auf Vergebung begruben. Tief getroffen durchschritt sie das Tor und wandte sich nach links, ohne wirklich wahrzunehmen, wohin sie ging.
Es schien keinen Ausweg zu geben.
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