Julia Extra Band 0305
KAPITEL
„Das ist alles für heute.“
Die Kinder strömten aus dem Klassenraum. Je nach Geschlecht knicksten sie oder verbeugten sich, während sie am Pult vorbeigingen. Giselle erhob sich vom Stuhl und bedachte jeden ihrer Schüler mit einem freundlichen Lächeln.
Wie angenehm es war, endlich wieder schmerzfrei auf beiden Beinen stehen und weder den Rollstuhl noch die leidigen Krücken nehmen zu müssen. Wenn ihre Physiotherapie weiter so erfolgreich verlief, konnte sie bald auch ihren Gehstock – wie die Sänfte ein antikes Relikt und Erbstück ihrer Großmutter aus schwarzem Ebenholz mit silbernem Knauf – dem Schlossmuseum vermachen.
In den langweiligen Physiotherapie-Stunden hatte Giselle sich erfolglos den Kopf darüber zerbrochen, wer nur ihr mysteriöser Fremder sein mochte. Leider war sie zu beschäftigt gewesen, um gründlich nachforschen zu können, wie sie es sich in der Ballnacht vorgenommen hatte. Obwohl sie in der Schlossschule durch eine junge Austauschlehrerin vertreten worden war und Maxime einen Großteil ihrer anderen täglichen Verpflichtungen übernommen hatte, während sie in Taures City weilte, gab es eine Menge nachzuholen.
Und als sie endlich mal einen Abend für sich hatte und sich ihrer Privatrecherche widmen wollte, hatte ein Virus das Computernetzwerk lahmgelegt, sodass ihr der Zugang zu den Personalakten verwehrt blieb. Doch heute sollte alles wieder funktionieren, und sie konnte den Feierabend kaum erwarten.
Aber warum hatte sie überhaupt diesen unbezwingbaren Drang, die Identität des schwarz Maskierten aufzudecken? Sie hatte ja nicht einmal mit ihm getanzt!
Doch als er sie an jenem Abend durch den Ballsaal führte, hatte sie sich an seinem Arm so sicher und leichtherzig gefühlt wie nie zuvor in der Begleitung eines Mannes. Und sie konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, wie es sein mochte, ganz in seinen starken Armen zu liegen und …
Unwillkürlich ließ Giselle einen frustrierten Laut hören, worauf die letzten Kinder, die gerade das Klassenzimmer verlassen wollten, irritiert stehen blieben und sie aus großen Augen fragend anstarrten.
„Schon gut … alles in Ordnung“, murmelte sie verlegen und versuchte, sich wieder aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. „Amanda, bleibst du bitte noch einen Augenblick bei mir?“
Das angesprochene Mädchen schaute alarmiert auf, doch im nächsten Moment wurde ihr schmales Gesicht zur undurchdringlichen Maske, wie so oft, wenn Giselle sie im Unterricht aufrief. Ein Austausch mit den anderen Lehrern ergab, dass sie ähnliche Beobachtungen gemacht hatten und ebenso besorgt über die Entwicklung der neuen Schülerin waren.
Laut Unterlagen war Amanda vor zwei Monaten zusammen mit ihrem Vater von Nuee hierhergezogen. In der dortigen Landschule wurden ihre Leistungen als vorbildlich bewertet. Natürlich sanken sie nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren ein wenig ab, aber nicht in dem Maße wie in den letzten Wochen.
Die Schuldirektorin war der Meinung gewesen, Giselle solle sich mit Amandas Vater in Verbindung setzen, damit man sich ein besseres Bild über die momentanen Umstände machen könne. Deshalb hatte sie Amanda einen Brief für ihn mitgegeben. Doch weder sie noch die Direktorin erhielten eine Rückmeldung.
„Setz dich doch bitte“, forderte Giselle das Mädchen auf und warf den anderen Kindern, die noch neugierig in der offenen Tür herumlungerten, einen strengen Blick zu, der sie sofort vertrieb.
Amanda hockte auf der Stuhlkante wie auf einem Arme-Sünder-Bänkchen und knetete nervös die schmalen Hände im Schoß. Giselle lehnte sich gegen das Pult und schaute das Mädchen freundlich an.
„Was hat dein Vater zu dem Brief gesagt?“
Die Schultern des Mädchens fielen herab. „Ich weiß nicht.“
Keine höfliche Anrede, wie sie es von ihren Schülern gewohnt war? Kein Titel? „Aber bekommen hat er ihn?“
„Ich habe ihn hingelegt.“
„ Eure königliche Hoheit “, schlug Giselle sanft vor, erntete dafür aber nur ein verstocktes Schweigen. „Du kannst mich auch Miss Giselle nennen, wenn dir das lieber ist.“ Vielleicht erschien ihr das weniger einschüchternd.
Immer noch keine Antwort.
„Amanda, bist du eigentlich glücklich auf Château Merrisand?“
Giselle richtete sich überrascht auf, als ihre Schülerin plötzlich die Hand vor den Mund schlug, aufsprang und einfach wegrannte. Gedankenverloren blieb die Prinzessin einige Minuten still stehen, bevor sie eine Entscheidung traf.
Dass Amanda hier
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