Julia Extra Band 0313
nicht, man lernte die Dinge erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr besaß?
Mit einem Schlag übermannte sie das Gefühl von Verlust, und sie hörte wieder die Warnung der Ärzte, sie sei noch nicht kräftig genug. Doch Allegra hasste diese Unsicherheit, hasste das schwarze Loch in ihrer Erinnerung.
Energisch unterdrückte sie den Impuls, den Fahrer anzuflehen, sie mit zurück zum Flughafen zu nehmen, schloss hinter ihm die Tür und lehnte die Stirn an das kühle Holz.
Ein Schlussstrich. Die Tür zur Vergangenheit musste sie ebenfalls schließen, damit sie endlich Frieden fand. Und wo könnte sie das besser tun als in ihrem Strandhaus?
Allegra ging zu der Schatten spendenden palapa , unter der sie so oft gesessen und den Anblick der kleinen abgeschiedenen Bucht genossen hatte. Flache Stufen führten hinunter an den weißen Strand, und als sie vor zwei Jahren hergekommen war, hatte sie sich spontan in diesen Ort verliebt.
Wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder jenen Tag vor sich, als sie hier eingezogen war. Sofort hatte sie ihren Bikini angezogen und war zum Wasser hinuntergerannt. England war ein ganzes Universum weit entfernt, und sie hatte sich versprochen, alles auszuprobieren und zu genießen, was Yucatán zu bieten hatte, während sie über die größte Entscheidung ihres Leben nachdachte: den grundsoliden englischen Arzt, mit dem sie schon seit über einem Jahr zusammen war, zu heiraten oder nicht.
Allegra hatte ihn sehr gern, in gewisser Hinsicht liebte sie ihn sogar. Nur war sie nicht sicher, ob sie den endgültigen Schritt wagen wollte.
Und dann war Miguel aus den Fluten aufgetaucht, wie eine heidnische Gottheit. Groß und braun gebrannt, ein sinnliches Lächeln auf den Lippen, mit Augen, die Freuden versprachen, von denen sie bis dahin nur geträumt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte Miguel tatsächlich für einen Strandcamper gehalten. Wie sehr sie sich getäuscht hatte!
Noch heute erinnerte sie sich daran, wie er sie gehalten hatte, nach dem leidenschaftlichen Liebesspiel, so fest, als wären sie miteinander verschmolzen. Und sie hatte gewusst, dass sie den englischen Arzt niemals würde heiraten können.
Doch wie bald schon war ihr feuriger Liebhaber, der sie vom Strand weg in seine privilegierte Welt entführt hatte, zu beschäftigt damit gewesen, sein Imperium aufzubauen, um mehr als ein paar gestohlene Momente für seine Frau und seine neugeborene Tochter zu erübrigen. Sie hatte Entschuldigungen für ihn gefunden. Natürlich brauchte er Abstand von einem quengelnden Baby und einer gestressten Ehefrau. Und so hatte sie auf ihren Mann gewartet, der ihr Held war und ihr Geliebter.
Umsonst.
Allegra trat vor das Regal und nahm das gerahmte Foto zur Hand. Für einen Moment konnte sie nicht mehr atmen, ihr war, als würde ihr Herz zerreißen.
Ihr süßes Baby, ihr Ein und Alles, ihre Cristobel.
Nie hatte sie sich etwas so sehr gewünscht wie dieses Kind, empfangen in unendlicher Liebe. Ein Geschenk Gottes, hatte Miguel gesagt, und sie hatte es ebenso gesehen. Doch das war, als die Liebe noch unbelastet zwischen ihnen gestrahlt hatte.
Mit zitternden Fingern strich sie über das Foto. Wie hatte sie nur so achtlos mit diesem wertvollen Leben umgehen können? Fest presste sie das Foto an ihr Herz, und das glückselige Lächeln ihrer Tochter stand vor ihren geschlossenen Augen. Ihre Knie wollten nachgeben, als die grausame Realität sie einholte.
Ihre Schuld. Tränen verwischten ihre Sicht, als sie auf das Sofa zuwankte.
Ganz allein ihre Schuld.
Miguel war kaum ins Haus getreten, als der typische Duft, der nur Allegra anhaftete, ihm entgegenschlug.
Doch dieses Mal spielte seine Einbildung ihm keinen Streich, dieses Mal war es wahr. Allegra war hier und die Möglichkeit zurVergeltung zum Greifen nah.
Er hatte gewusst, dass sie irgendwann zurückkommen würde, dennoch traf es ihn wie ein Schlag, als er sie auf dem Sofa erblickte. So war es auch beim ersten Mal gewesen, als er sie dort am Strand hatte stehen sehen – nahezu engelsgleich.
Sie hatte seine Schutzmauern eingerissen und sich in seine Gedanken geschlichen, bei Tag und bei Nacht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er davor gestanden, komplett die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, doch so etwas würde er niemals zulassen. Deshalb hatte er zu seiner Beruhigung einen Leibwächter angeheuert, der sie beschützen würde, wenn er nicht da war, um alle Gefahren von ihr abzuwenden. Bewusst und mit aller Kraft
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