Julia Extra Band 0318
Neffen jetzt so sah, verstand er die Reaktion. Der Junge hörte harte, düstere Musik in einer fremden Sprache und blätterte in einem Buch, dessen Titel irgendwie griechisch aussah.
„Wann hat deine Lehrerin dir den Brief gegeben?“
Keine Antwort.
„Heute wohl kaum“, sagte Ben trocken.
„Nee, heute nicht“, stimmte Kyle ihm zu.
Ben warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. „Los jetzt, auf zu Miss Maple. Wir sind spät dran.“
„Miss Maple hasst Unpünktlichkeit“, informierte Kyle ihn und ahmte dabei die schrille Stimme seiner Lehrerin nach. Es schien ihn zu freuen, dass er seinem Onkel Ärger mit ihr beschert hatte, noch bevor die beiden sich überhaupt getroffen hatten.
Als er Kyle die Tür der Grundschule von Cranberry Corners aufhielt und ihm dann durch einen langen Korridor mit blank poliertem Boden folgte, war Ben sehr angespannt. Er fühlte sich wie ein Soldat, der ins Ungewisse zog – würde er kämpfen müssen, oder konnte er verhandeln? Seine Gedanken standen in seltsamem Gegensatz zu den fröhlichen Zeichnungen an den Wänden, die lachende Sonnen und Strichmännchen mit Hund zeigten.
Kyle zeigte auf einen der Klassenräume. Ben blieb vor der geöffneten Tür stehen und schaute verwirrt in den Raum. Dort saß eine junge Frau allein an einem Pult vor der Klasse. Der Schein der Septembersonne fiel sanft auf ihre schlanken Schultern.
„Das kann unmöglich Miss Maple sein.“
Möglichst lässig spähte Kyle an ihm vorbei und erwiderte: „Und ob sie das ist.“
Ben hatte sich Miss Maple völlig anders vorgestellt. Der Anblick dieser Miss Maple beruhigte ihn augenblicklich. Offensichtlich war an Kyles Beschreibung seiner Lehrerin kein wahres Wort gewesen. Zumindest, was „potthässlich“ und „alt“ betraf. Zu „gemein“ konnte Ben noch nichts sagen, ebenso wenig wie zu ihrer angeblich schrillen Stimme.
Auch der Klassenraum wirkte irgendwie beruhigend. In einer Ecke stand ein großer Baum aus Pappmaschee, dessen Äste sich bis unter die Decke ausbreiteten. Von ihnen baumelten Blätter in bunten Herbstfarben herab, auf denen Kindernamen standen. An den Wänden hingen Listen mit glänzenden Fleißsternchen neben selbst gemalten Bildern und Nachdrucken von berühmten Gemälden. Der Raum wirkte, als ob hier jemand seine Arbeit wirklich liebte. Ben war erstaunt, denn nach Kyles Erzählungen hatte er sich den Klassenraum von Miss Maple eher wie eine Gefängniszelle vorgestellt.
Es kostete ihn einige Mühe, die vorgefassten Bilder seiner Vorstellung zu verdrängen. Miss Maple war also in Wirklichkeit jung, nicht älter als fünfundzwanzig. Ihre Gesichtszüge waren fein und makellos, ihre Haut leicht gebräunt und vollkommen glatt. Ihr Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, schimmerte dunkelgolden – wie der Wildblütenhonig, der auf Bens Küchentresen stand.
Natürlich konnte sie immer noch „gemein“ sein. Ben hatte viele bildhübsche Frauen getroffen, die durch und durch gemein gewesen waren. Man erkannte es an ihren harten und eiskalten Augen.
Aber dann sah Miss Maple ihn an. Ihre Augen waren weich und herrlich blaugrün, eine Mischung aus Aquamarin und Jade. Für einen kurzen Augenblick schien Ben in diesen Augen zu versinken.
Nein, in diesen Augen lag nichts Gemeines. Er schenkte ihr sein bestes Lächeln, sympathisch, aber auch etwas keck.
Zu seiner Verwunderung verfinsterte sich ihr Blick. Zwar sah sie auch so keineswegs gemein aus, aber Ben begann zu verstehen, wie dieser Blick einem elfjährigen Jungen Respekt einflößen konnte.
„Hallo“, sagte Miss Maple. „Sie haben sich wohl verlaufen.“ Ihre Stimme klang ganz und gar nicht schrill, sondern im Gegenteil glockenklar und höchst angenehm. Miss Maple richtete sich auf und verschränkte die Arme. Sie wirkte plötzlich ein bisschen ängstlich, als ob ihr klar geworden wäre, dass sie ganz allein in diesem Teil des Gebäudes war.
Normalerweise wirkte Ben nicht so auf Frauen. Doch dass diese Miss Maple sich nachmittags um fünf noch hier aufhielt, sprach Bände. Nichts los in ihrem Privatleben, dachte er. Vielleicht war sie deshalb überempfindlich, was Männer betraf. Auch das liebevoll gestaltete Klassenzimmer deutete auf ein langweiliges Privatleben hin. Wie lange mochte es wohl gedauert haben, diesen Baum zu basteln? Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Sommer in der Schule verbracht.
Was für eine Schande, dachte Ben, als sein Blick über die wohlgeformten Kurven ihrer Brüste glitt.
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