Julia Extra Band 0318
überzeugen, dass regelmäßige Mahlzeiten gut für ihn sind.“
Das stimmte tatsächlich. Sein Neffe war erschreckend dünn für sein Alter, eine Folge des schlechten Lebensstils, den er seiner Mutter verdankte. Zuerst hatte Kyle sich gegen feste Essenszeiten gewehrt. Noch dazu gab es bei Ben nur gesundes Essen, das natürlich „furchtbar“ schmeckte. In den letzten Tagen aber hatte Ben den Eindruck, dass Kyle sich an die Routine gewöhnte und sie sogar zu schätzen wusste.
Er erzählte Miss Maple davon. Sie sah tatsächlich ein bisschen beeindruckt aus.
„Er hat es nicht leicht gehabt, oder?“, erkundigte sie sich.
Ihr strenger Gesichtsausdruck wurde weich. So sah sie wirklich süß aus. Jetzt habe ich dich, dachte Ben. Wenn er sie jetzt noch einmal zum Abendessen einladen würde, könnte sie ihm nicht widerstehen.
Aber zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er es nicht konnte. Er spürte einen Kloß im Hals. „Nicht leicht“ war gar kein Ausdruck dafür, wie furchtbar es Kyle bisher im Leben ergangen war.
Ben wusste, dass er Frauen eiskalt belügen und manipulieren konnte, wenn er wollte. Aber in diesem Fall brachte er es einfach nicht fertig, Kyles trauriges Schicksal zu missbrauchen, um sein Ziel zu erreichen.
Sein Ziel war natürlich eine Verabredung mit Miss Maple. Nur um zu sehen, wo es hinführte. Aber vorläufig würde er es bleiben lassen. Was auch immer er sonst für ein Mensch sein mochte, er besaß einen starken Sinn für Gerechtigkeit. Miss Maple lag ernsthaft etwas an Kyle, das war offensichtlich. Damit durfte er nicht spielen. In Kyles Leben hatte es viel zu wenig Menschen gegeben, die sich ernsthaft um ihn gekümmert hatten. Es wäre ungerecht, wenn sein Onkel die Fürsorge seiner Lehrerin aufs Spiel setzen würde, nur weil er ein Date mit ihr wollte. In diesem Fall würde Ben sich moralisch verhalten.
Moral war natürlich immer relativ. Zwar bat er Miss Maple kein zweites Mal um eine Verabredung, gab ihr aber – nicht ganz ohne Hintergedanken – seine Handynummer. Für den Fall, dass etwas mit Kyle wäre und sie mit ihm sprechen müsste, während er tagsüber arbeitete. Jetzt war es an ihr.
Zögerlich nahm sie die Nummer an. Sie schien Ben nicht recht zu glauben, dass er ihr die Nummer wegen Kyle gab.
Kyle kam zurück ins Klassenzimmer, sein neues Buch fest an die Brust gedrückt. „Und wie lange kann ich es haben?“, fragte er unhöflich.
„Es gehört dir“, antwortete Miss Maple freundlich. „Ich habe es extra für dich bestellt.“
Finster sah Kyle sie an. „Ich habe es schon gelesen. Es ist bescheuert. Das können Sie behalten.“
Fast hätte Ben seinen Neffen angefahren und ihm die Meinung gesagt. Was er sich eigentlich dabei dachte, dermaßen undankbar zu sein, obwohl jemand etwas so Nettes für ihn tat. Aber Miss Maples Blick hielt ihn davon ab. Sie schien Kyles Worte gar nicht zu hören und stattdessen nur zu sehen, wie inbrünstig er das Buch an sich gedrückt hielt. Ohne eine Spur von Vorwurf in der Stimme erwiderte sie: „Behalt es trotzdem. Vielleicht gefällt es ja deinem Onkel.“
Ben sah sie scharf an. Was wollte sie denn damit sagen? Dass er ein bescheuertes Buch gut finden könnte? Aber ihr sanfter Gesichtsausdruck verriet nichts.
In diesem Moment spürte er eine kitzelnde Erregung in sich. Als Soldat kannte er diese Erregung gut. Er hatte sie oft verspürt, wenn er in unbekanntem Gelände unterwegs gewesen war. Wenn die Chance, erschossen zu werden, genauso groß gewesen war wie die, den Feind zu überrumpeln.
„Mir gefällt Ihr Baum“, sagte er. Schmeicheln klappt immer.
„Danke“, antwortete sie. „Wir haben ihn letztes Jahr als Klassenprojekt gebastelt.“
Irgendetwas in Bens Gesicht musste ihr fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, dass er das Projekt albern fand. Darum fügte sie gestelzt hinzu: „Der Baum dient als Ausgangspunkt für viele Unterrichtsaktivitäten in Sachkunde, Mathematik und Englisch. ‚Was wir mit Freude lernen, vergessen wir nie.‘ Aristoteles.“
Nachdem Ben und Kyle die Schule verlassen hatten, gingen sie Hamburger essen.
„Deine Lehrerin kommt mir gar nicht so alt vor“, sagte Ben. Warum begann er denn jetzt ausgerechnet ein Gespräch über Miss Maple? Eine Frau, die Aristoteles zitierte. Das sollte ihn eigentlich warnen, nicht faszinieren.
Kyle war in sein Buch vertieft und schaute ihn nicht einmal an. „Das kommt daher, weil du keine elf bist.“
Vergiss es, dachte Ben. Es gab schließlich
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