Julia Extra Band 0318
ich es.
Ich werde meinen Frosch nehmen und irgendwo ein neues Zuhause für uns suchen. In Australien soll das Wetter zu dieser Jahreszeit schön sein. Vielleicht kann ich mich als blinder Passagier auf einem Schiff verstecken. Oder das Geld für die Überfahrt irgendwie abarbeiten.
Jedenfalls werd ich nicht auf eine Postkarte aus Hawaii warten, auf der steht: „Es war schön, dich gekannt zu haben, mein Junge. Alles Gute, dein Onkel Ben.“
„Kyle?“
Das Haus wirkte leer. Ben hatte ein ungutes Gefühl, als er Kyles Zimmer betrat. Er hatte es geahnt. Der Kleiderschrank und die Kommode standen offen. Fast alle Sachen von Kyle waren verschwunden.
Ben sah ins Terrarium. Auch der Frosch war weg.
Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel. „Bin in Australien“, stand darauf. „Viel Spaß auf Hawaii. Tschüss! – Kyle O. Anderson.“
Die Worte drückten Schmerz und Enttäuschung aus. Gefühle, für die Ben verantwortlich war. Er hatte einen großen Fehler gemacht. Aber liefen nicht alle Elfjährigen irgendwann einmal von zu Hause weg? Kyle würde schon wiederkommen, wenn er Hunger und Durst bekam. Dann würde Ben ihm erklären, dass er nicht auf Hawaii bleiben wollte.
Als Ben das Zimmer verlassen wollte, fiel ihm etwas auf. Unter dem Regal mit dem Terrarium lag ein Buch auf dem Boden. Es sah aus, als wäre es versehentlich dort gelandet. Ben bückte sich und hob es auf – ein billiges Tagebuch mit einem Schloss. Das Schloss war offen.
„‚Das geheime Tagebuch von Kyle O. Anderson‘“, las er laut und musste lächeln. Typisch Kyle. Er hält immer alles geheim. Vor allem, wie sensibel er eigentlich ist.
Sensibilität war nicht gerade Bens Stärke. Auch das war ein Grund, warum Beth besser die Finger von ihm lassen sollte. Und Kyle? Verdiente er nicht auch jemanden Besseres als so einen unsensiblen Onkel?
Aber Ben konnte sich um nichts in der Welt vorstellen, seinen Neffen aufzugeben. Auch wenn er nach einigen Seiten Lektüre erkannte, dass er das Kyle offensichtlich nie deutlich genug gezeigt hatte.
Wie hatte er es nur versäumen können, Kyle von Anfang an klar zu machen, dass dies sein Zuhause war? Für immer. Dass er ihn, egal, was auch passierte, niemals wegschicken würde?
Ben war einfach davon ausgegangen, dass Kyle es wusste. Dass die Cowboybettwäsche und der geschenkte Fernseher es ausdrückten. Genau so, wie er angenommen hatte, dass auch Carly wusste, dass er sie liebte. Hatte er Kyle eigentlich jemals gesagt, dass er ihn liebte? Nein. Sein Neffe hatte im Bett gelegen und Bauchschmerzen vor Angst gehabt, und Ben hatte nichts getan, damit er sich geborgen und sicher fühlte.
Aber Bens größte Sorge im Moment war, wo Kyle steckte. Wieder sehnte er sich danach, Beth anzurufen. Nein, das ging nicht, er musste Kyle allein finden.
Einige Stunden später fehlte von Kyle immer noch jede Spur. Ben hatte ganz Cranberry Corners durchkämmt, mit sämtlichen Busfahrern gesprochen und war am Bahnhof gewesen. Er hatte im Dunkeln das Ufer von Migg’s Pond abgesucht. Nichts.
Was nun? Sollte er die Polizei anrufen?
Er musste mit Beth sprechen. Nicht, weil sie wusste, wo Kyle war. Obwohl sie vielleicht eine gute Idee hatte.
Nein, er musste mit ihr sprechen, weil sie diejenige war. Diejenige, der es trotz all seiner Abwehrversuche gelungen war, sein Innerstes zu berühren. Sie war es, an die er sich jetzt, da seine eigenen Kräfte nicht reichten, wenden musste. Sie würde ihm helfen, den Jungen zu finden.
Die Wahrheit war – und daran gab es keinen Zweifel: Er hatte sich in Beth Maple verliebt.
Aber das musste sie nicht erfahren.
Ihre Stimme klang schläfrig, als sie ans Telefon ging.
„Beth“, sagte er erleichtert.
„Ben“, antwortete sie.
Sie klang erfreut. Gott sei Dank.
„Tut mir leid, dass ich dich wecke.“
„Kein Problem. Was ist los? Wie viel Uhr ist es? Zwei?“
Als Ben ihre Stimme hörte, wusste er es. Er wusste, wo Kyle war. Kyle hatte sich verlassen und ungeliebt gefühlt – wohin würde er da wohl zurückkehren?
„Kann man das Baumhaus von deinem Schlafzimmerfenster aus sehen?“, fragte er.
„Ja.“
„Könntest du mal rausschauen?“
„Warum?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Hoffte sie, dass er sie an die schöne Zeit erinnern wollte, als sie gemeinsam das Baumhaus gebaut hatten?
„Kyle ist weg. Es könnte sein, dass er dort ist“, erklärte er.
Gleich darauf hörte er, wie sie zum Fenster ging. „Es ist zu dunkel“, flüsterte sie. „Soll ich das Verandalicht
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