Julia Extra Band 0318
geht?“
Für den Bruchteil einer Sekunde lächelte er. Er erinnerte sich an die schönen Tage im Herbst, an denen sie sich oft leidenschaftlich gestritten und gegenseitig geärgert hatten, bloß um dann in schallendes Gelächter auszubrechen?
Dann verschwand das Lächeln.
„Glaub mir, Beth, ich weiß, dass auf dieser Welt nicht alles nach meinem Willen geht. Niemand weiß das besser als ich.“
Natürlich wusste es niemand besser. Er hatte seine Schwester begraben müssen. Und seine Eltern.
„Kyle scheint recht gut damit klarzukommen“, bemerkte sie vorsichtig.
„Ja, er macht seine Hausaufgaben. Und sein Zeugnis war gut.“
„Das meinte ich nicht.“
„Wir kommen zurecht, Beth.“
Sie nickte. „Peter möchte Kyle über Thanksgiving zu sich einladen. Und meine Eltern würden sich freuen, wenn ihr beide beim großen Thanksgiving-Dinner dabei seid.“
„Ich frage Kyle, ob er Lust hat. Wahrscheinlich schon. Ich glaube, deine Mom und dein Neffe helfen ihm sehr, das alles durchzustehen. Würdest du dich bei ihnen in meinem Namen bedanken?“
„Also kommst du nicht zu Thanksgiving?“
„Vielleicht fliege ich über die Feiertage nach Hawaii.“
„Für vier Tage?“, fragte sie ungläubig.
Stumm zuckte er mit den Schultern.
„Du trauerst um alles, oder? Nicht nur um Carly. Auch um all die Dinge von früher, die du aufgeschoben hast.“
„Hör auf“, sagte er drohend.
„Sag mir nicht, dass ich aufhören soll“, erwiderte sie scharf. „Weißt du noch, wie du in dieses Klassenzimmer gekommen bist? Es sah so aus, als würden wir Kyle verlieren. Aber du hast ihn nicht aufgegeben … Wer kommt jetzt und gibt dich nicht auf, Ben? Wer, wenn nicht ich?“
„Hast du denn gar keinen Stolz?“, fuhr er sie an. „Warum läufst du einem Mann hinterher, der das, was du ihm anbietest, nicht will?“
Ben nicht aufzugeben, hatte nichts mit Stolz zu tun. Genau genommen hatte es überhaupt nichts mit ihr zu tun. Sie spürte seine Not und seine Verzweiflung, und ihre Liebe – das wusste sie – verlangte, dass sie ihn nicht aufgab.
„Jeder Mann zählt“, entgegnete sie mit ruhiger Stimme und der Entschlossenheit eines Soldaten. Sie würde ihn nicht in seinem selbst gewählten Gefängnis zurücklassen. Auf keinen Fall.
Da stand Ben so schnell auf, dass sein Stuhl umfiel. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich.
„Ich will es nicht!“, rief er wütend. „Verstehst du? Ich will nur für mich selbst verantwortlich sein und für niemanden sonst.“
„Weil du sonst verletzt werden könntest?“, fragte sie sanft.
„Nein! Weil ich ein Egoist bin und es auch bleiben will. Sieh mich doch endlich so, wie ich bin!“
Aber nichts würde sie aufhalten. „Ich gebe dich nicht auf“, erklärte sie, „ob du willst oder nicht.“
Wütend starrte er sie an.
„Es kann sein, dass ich auf Hawaii bleibe.“
Beth war sicher, dass er bluffte. Gerade, als sie sagen wollte, dass sie ihn auch dann nicht aufgeben würde, wenn er bis ans Ende der Welt vor ihr floh, hörte sie hinter ihm ein Geräusch.
Wann war Kyle hereingekommen? Er stand da und starrte seinen Onkel an. Dann drehte er sich um und rannte davon.
Für einen Augenblick sackten Bens Schultern nach unten. In seinem Gesicht spiegelte sich Verzweiflung. „So bin ich“, sagte er. „Immer verletze ich jemanden … und darum will ich nicht, dass du dein Herz an mich hängst, Beth.“
Damit drehte er sich um und ging.
Das geheime Tagebuch von Kyle O. Anderson
Onkel Ben fährt nach Hawaii und will dortbleiben! Ich hab gehört, wie er es Beth gesagt hat. Ich wusste schon vorher, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er ist so still. Einmal hab ich gesehen, wie er in einem großen Buch geblättert hat. Als er bemerkt hat, dass ich ihn beobachte, hat er es weggestellt.
Später, als er weg war, hab ich mir das Buch aus der Nähe angesehen. Es war ein altes Album mit Fotos von ihm und meiner Mom als Kinder. Und von meinen Großeltern, die gestorben sind. Ich würd mir die Bilder gern mit ihm zusammen ansehen und die Geschichten dazu hören, aber er hatte einen komischen Gesichtsausdruck, deshalb trau ich mich nicht, ihn zu fragen.
Ich frage mich, wo ich bleiben soll, wenn er nach Hawaii geht. Jedenfalls hat er zu Beth nichts davon gesagt, dass er mich mitnimmt. Außerdem hab ich gehört, dass er für niemanden verantwortlich sein will. Also auch nicht für mich!
Ich hatte von Anfang an Angst, dass Onkel Ben mich nicht bei sich behalten würde. Jetzt weiß
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