Julia Extra Band 0319
nicht so verlaufen, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie fühlte sich, als würde ihr ein essenzieller Teil des Lebens fehlen, das andere Menschen führten. Hoffte sie, es endlich zu finden, mit diesem Mann? „Wieso fragen Sie?“
„Weil es auch mein Lieblingsstück ist, aus den gleichen Gründen, die Sie soeben genannt haben.“
Abby lachte leise. „Wir beide hören uns schrecklich melancholisch an.“
Der Ober erschien und räumte die Teller ab, verschwand dann lautlos wie eine Katze. Es musste fast Mitternacht sein, ihr Vater würde sie längst zurückerwarten. Oder schlief er? Sorgen würde er sich nicht um sie machen, denn sieben Jahre Konzertroutine waren noch nie unterbrochen worden – erst der Auftritt, dann die Fahrt mit der Limousine oder dem Taxi zurück zum Hotel.
Wann würde sie heute ins Hotel zurückkommen? Und wie? Dieser Abend sollte nicht zu Ende gehen, noch nicht. Ein gestohlener Moment, unerwartet einem Leben abgerungen, das aus Musik und Pflichterfüllung bestand. Sie wünschte, er könnte ewig dauern.
„Woran denken Sie?“ Doch Luc beantwortete die Frage gleich selbst. „Daran, dass uns die Zeit wegrennt? Dass uns nur ein paar Stunden bleiben?“
„Woher wussten Sie …?“
„Weil ich das Gleiche dachte.“ Er lächelte traurig. „Aber vielleicht ist das alles, was uns gewährt wird.“
„Nein!“ Das Wort platzte regelrecht aus ihr heraus. Dann, ruhiger, leiser: „Ich will nicht, dass der Abend zu Ende geht.“
Luc neigte den Kopf ein wenig zur Seite, betrachtete sie mit dunklen Augen. „Ich auch nicht“, und dann fügte er nüchterner hinzu: „Er wird auch nicht so schnell enden. Wir haben noch vier Gänge. Schließlich sind wir in Frankreich, nicht wahr?“
„ Bien sûr “, stimmte Abby zu. Dabei hatte sie nicht das Essen gemeint, und sie war sicher, er auch nicht. Doch worauf genau hatte sie sich also bezogen? Ihr Magen zog sich zusammen.
Wie auf Stichwort trat der Ober mit dem nächsten Gang an den Tisch. Der Abend verging, der gute Wein, das hervorragende Essen und die angeregte Konversation verliehen der Atmosphäre etwas Außergewöhnliches. Abby fiel es erstaunlich leicht, entspannt zu plaudern. Sie fühlte sich sogar so wohl, dass sie unter dem Tisch die hohen Pumps von den Füßen streifte und den Saum ihres Abendkleides über ihre Zehen schlug.
„Wenn Sie tun könnten, was Sie wollen, was würden Sie sich dann aussuchen?“, fragte Luc sie nach dem dritten Gang.
Abby stützte das Kinn in die Hand und sah ihn mit strahlenden Augen an. „Drachen steigen lassen.“ Für ihre spontane Antwort erntete sie ein erstauntes Schmunzeln. „Oder kochen lernen.“
„Einen Drachen steigen lassen?“, hakte er nach.
Abby zuckte die Schultern. „Früher auf Hampstead Heath habe ich sie immer mit ihren Drachen gesehen.“
„Sie?“
„Die anderen Kinder. Ich hatte nie Zeit dafür. Meine Klavierstunden …“ So viel hatte sie nicht von sich preisgeben wollen, sie war froh für die Ablenkung, als der Ober mit dem Dessert an den Tisch kam. „Und kochen möchte ich, weil Essen so köstlich ist und ich nie gelernt habe, wie man es zubereitet.“ Genießerisch steckte sie sich einen Löffel Mousse au Chocolat in den Mund. „Und Sie? Was würden Sie tun?“
„Die Zeit zurückdrehen.“ Er klang so düster, erstaunt schaute Abby auf. Dann lächelte er. „Damit ich diesen Abend mit Ihnen immer wieder erleben kann.“
Doch Abby wusste, dass er das nicht gemeint hatte.
Viel zu bald kehrte der Ober mit Kaffee und Petits Fours an den Tisch zurück. Der Abend näherte sich seinem Ende. In einer Viertel-, höchstens einer halben Stunde würde Abby sich verabschieden, ein Taxi ins Hotel nehmen und durch das verlassene Foyer zum Aufzug gehen müssen. Sie konnte nur hoffen, dass der Nachtportier ihrem Vater nichts verriet. Mademoiselle est revenue très tard …
Und dann würde sie sich davon überzeugen, dass dieser Abend nie geschehen war, dass Luc nie existiert hatte …
Aber dieser Abend musste ja gar nicht in der Bar enden! Sie konnten doch noch irgendwo anders hingehen, irgendwohin, wo es privater war …
Ein Zimmer. Schließlich war das hier ein Hotel. Hatte Luc ein Zimmer hier? Die Fragen, ebenso wie die möglichen Antworten, schwirrten durch Abbys Kopf. Dachte sie wirklich daran, die Nacht mit diesem Mann zu verbringen, sie, eine Frau, die in ihrem Leben bisher nicht einmal richtig geküsst worden war? Ein One-Night-Stand?
Und doch stieß der Gedanke sie
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