Julia Extra Band 0330
verrückten Impulse überkam sie.
Sie könnte jetzt einfach zur Tür hinausgehen, ins Auto springen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Bei dem Gedanken bekam sie eine Gänsehaut. Der Drang, genau das zu tun, war beinahe unwiderstehlich. Es war erst sechs Uhr.
Tief durchatmen. Ruhig überlegen …
Sie merkte, dass das Kribbeln in ihren Armen auch nur eine Nachwirkung ihrer Schädelverletzung war. Ihre Affektkontrolle funktionierte nicht mehr richtig, das wusste sie, und es war sehr schwer für sie, einem spontanen Einfall zu widerstehen.
Immerhin musste sie noch dankbar sein, dass sie nicht schlimmer dran war, wie so viele in der Rehaklinik. Zum Beispiel Barry, der gar nicht mehr begriff, dass man nicht einfach jeder Frau in den Hintern kneifen konnte. Oder Fenella, die wie ein Kutscher schimpfte, wenn sie nicht immer genau dieselbe Anzahl Erbsen auf ihrem Teller hatte, alle hübsch aufgereiht. Ellie nickte. O ja, es könnte alles noch viel schlimmer sein, das durfte sie nie vergessen.
Nach dem Desaster von letzter Nacht würde ihr neuer Boss sie ohnehin gleich wieder rauswerfen.
Sie brühte sich einen starken Tee, dann öffnete sie die große Glastür zum Garten, der im sanften Morgenlicht friedlich dalag. Tief atmete sie die köstlichen Düfte ein, während sie den schmalen gefliesten Pfad zwischen den Beeten hindurchging. Vor einer sonnenbeschienenen Wiese setzte sie sich mit ihrer Teetasse auf eine Bank, streckte genüsslich ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen.
So war es morgens in ihrem Cottage gewesen, als sie noch glücklich mit ihrer kleinen Familie zusammen war. Oft hatte sie im Garten gesessen, bevor Sam und Chloe aufwachten. Dort hatte sie Ruhe gefunden und war ganz bei sich gewesen. Barfuß war sie über das weiche Gras gelaufen, und oft hatte sie in den Himmel geblickt und Gott gedankt, dass sie ein so glückliches Leben führen durfte.
Seit Sam und Chloe nicht mehr da waren, war sie nie wieder so durch den Garten gegangen. Nirgendwo hatte sie mehr Frieden gefunden. Und wenn sie jetzt zum Himmel blickte, dann verfluchte sie Gott, dass er so grausam war.
Ellie beugte sich vor, um ein Spinnennetz zu betrachten, das zwischen den Ästen eines Busches glitzerte. Wie kleine Perlen glänzten die Tautropfen in der Sonne.
Wie sollte es mit ihr weitergehen? Sie war ganz allein, und ihr Leben war völlig durcheinandergeraten. Wie dumm von ihr zu glauben, hier könnte sie sich von ihrer Vergangenheit befreien und ein neues Leben anfangen.
Eine Träne quoll ihr aus dem Augenwinkel, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. Wie immer half es ihr, tief durchzuatmen, dann stand sie auf und ging langsam im Garten umher, wobei sie leise vor sich hin murmelte, wie sie es zu Hause immer getan hatte.
Die Diele auf dem Treppenabsatz knarrte, und Ellie hielt den Atem an. Sie war gerade dabei, ihre Sachen wahllos in die Reisetaschen zu stopfen.
Gegen Mittag hatte sie Geräusche im ersten Stock gehört und war kurz danach hinaufgegangen, um zu packen. Den ganzen Nachmittag hatte sie damit vertrödelt, denn so konnte sie das Treffen mit dem Hausherrn hinauszögern und sich innerlich darauf vorbereiten, dass er ihr gleich kündigen würde.
Ellie stopfte das schmutzige T-Shirt von gestern in die Reisetasche und griff nach ihrem Waschbeutel. Er entglitt ihren Fingern, und sie bekam ihn gerade noch zu fassen, doch der ganze Inhalt ergoss sich über den Teppich. Warum ging ihr eigentlich immer alles daneben?
Sie setzte sich aufs Bett und drückte Chloes Teddybär an ihre Wange. Eine Zeit lang hatte er noch nach ihrer Tochter gerochen, aber der Duft war längst verflogen. Ellie küsste den Bären.
Nur wenige Schätze hatte sie aus der Vergangenheit aufgehoben, und die wurden immer als Erstes ausgepackt. Auf dem Nachttisch stand ein silberner Bilderrahmen mit ihrem Lieblingsfoto, sie und Sam auf ihrer Hochzeitsreise. Sie hatten das ältere Ehepaar im Zimmer nebenan gebeten, das Foto zu machen. Lachend sahen sie einander in die Augen, die Haare vom Wind zerzaust, und hatten nicht einmal gemerkt, wie ihr Zimmernachbar auf den Auslöser drückte.
Ihr schöner, lieber, lustiger Mann, mit seinem schelmischen Lächeln und seinem zerzausten Haar. Als sie ihn verlor, war es, als hätte man ihr ein lebenswichtiges Organ entfernt. Sie wusste nicht, wie sie ohne ihn weiterleben sollte.
Seit sie sich am ersten Schultag kennengelernt hatten, waren sie unzertrennlich gewesen, und eine Woche nach ihrem
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