Julia Extra Band 0331
für den dummen Neuen ausgedacht, der nicht einmal lesen und schreiben konnte. Ich war wütend. Vor allem auf meine Mutter, weil wir wieder umgezogen waren. Wenn wir längere Zeit an einem Ort geblieben wären, hätte vielleicht jemand erkannt, was mit mir los ist. Stattdessen haben alle den voreiligen Schluss gezogen, dass ich dumm oder faul bin. Ich denke, meistens waren sie froh, mich los zu sein.“
„Das muss sehr schwer für dich gewesen sein. Es tut mir leid.“
„Ich war wütend auf mich selbst, weil ich nicht begriff, was die anderen so leicht fanden. Wütend auf die Lehrer, die nicht fragten, warum ich nicht mitkam. Eines Tages hat mich ein Typ so provoziert, dass ich zugeschlagen habe. Ich musste also nach dem Unterricht noch bleiben. Da ich schon mit fünfzehn nach der Schule in einer Pizzeria gejobbt und ein bisschen Ahnung hatte, fing ich an, mit den restlichen Zutaten zu backen. Nach einer halben Stunde hatte ich ein anständiges Brot und zwei Minipizzas auf dem Tisch. Und weil ich so hungrig war, begann ich zu essen. Gerade als Maria zurückkehrte.“
„Und was hat sie gesagt?“
„Viel.“ Brad grinste. „Ich habe gegessen. Sie hat Fragen gestellt und schnell erkannt, dass ich mir die Rezepte eingeprägt hatte und begabt war. Und dann hat sie mir einen Job als Küchengehilfe angeboten. Sechs Abende die Woche und jedes Wochenende. Hier.“
Er machte eine Pause und sah sich im Raum um. „Maria hat auch erkannt, dass wir mehr als nur Talent und eine Vorliebe für gutes Essen gemeinsam haben. Sie ist Legasthenikerin. Deshalb hat sie die Symptome bei mir entdeckt.“
„Wow. Mein Vater hat mir vor ein paar Jahren erzählt, dass sie an Lese- und Rechtschreibschwäche leidet, aber ich habe keinen Gedanken daran verschwendet.“
„Außerdem ist deine Tante erstaunlich hartnäckig. Drei Monate hat sie gebraucht, um mich zu überreden, einen Test machen zu lassen. Ich wollte nicht noch mehr Testaufgaben, die ich bestimmt falsch verstehen würde, weil ich nicht lesen kann. Ich hatte es satt, als Schulversager eingestuft zu werden, der faul und langsam ist. Am Ende war es das Beste, was mir jemals passiert ist. Bis mir der Gutachter erklärte, worum es ging, hatte ich das Wort ‚Legasthenie‘ noch nicht einmal gehört. Diese Tests waren anders. Muster. Formen. Logik. Nicht nur Wörter und Sätze.“
Bevor er weitersprach, trank Brad einen Schluck Wein. „Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mit Maria vor dem Prüfungszimmer saß und der Gutachter herauskam und sagte, meine Punktzahl gehöre zu den höchsten, die er bisher gesehen habe. Ich sei intelligent, visuell begabt und kreativ. Und ich sei Legastheniker. Man könne es mir auf der Hochschule leichter machen, indem die Dozenten Rezepte laut vorlesen oder Videos verwenden. Ich dürfe sogar den Unterricht aufzeichnen. Plötzlich erkannte ich, dass ich eine Chance habe.“
Leise lachte Brad. „Schwierig war es trotzdem. Besonders in den Prüfungen. In Paris hat Chris mir geholfen. Glücklicherweise habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Der Rest ist Geschichte, wie man sagt.“ Er hob sein Glas. „Auf Maria, die mich gelehrt hat, dass es sich manchmal auszahlt, stur zu sein. Selbst wenn alle anderen meinen, dass man nichts taugt.“
„Nein.“ Sienna schüttelte den Kopf. „Ich erhebe das Glas auf euch beide. Du solltest stolz auf das sein, was du erreicht hast. Danke, dass du so ehrlich zu mir bist. Es bedeutet mir viel.“
„Bitte sehr. Auf Maria!“
„Auf Maria und Brad, zwei der bemerkenswertesten Menschen, die ich kenne.“
So hatte Sienna das nicht beabsichtigt. Es war ihr einfach herausgerutscht. Nach seiner erstaunten Miene zu urteilen, hatte Brad es noch weniger erwartet. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen.
„Danke. Du bist auch nicht übel, Restaurantmanagerin Rossi. Und da wir gerade davon sprechen … Vielleicht kann ich dich umstimmen? Du magst Chris und Jess. Wir vertragen uns alle gut. Komm und arbeite bei mir anstatt im verstaubten alten Greystone Manor. Du wirst es nicht bereuen.“
Sienna stellte ihr Glas hin und stand auf. „Danke, aber ich kann nicht.“
Angespannt, mit hochgezogenen Schultern, saß Brad da. Seine Enttäuschung hing wie ein bitterer Geschmack in der Luft.
Er war so ein netter Mann, zärtlich und verständnisvoll. Sienna wollte ihn umarmen, ihm sagen, dass sie gern mit ihm zusammen wäre. Aber das würde bedeuten, ihm ihr Glück anzuvertrauen. Und das durfte sie ihnen
Weitere Kostenlose Bücher