Julia Extra Band 0331
haben.“
Ein anderes Kind meldete sich zu Wort. „Mein Dad sagt immer, wenn jemand gemein zu dir ist, dann kleb ihm eine und er lässt dich in Zukunft in Ruhe.“
Kelly seufzte. „Wir sollten lieber mehr auf die Gefühle der anderen achten.“ Sie sprach jetzt lauter und richtete sich an die ganze Klasse. „Wir müssen Verständnis dafür haben, dass nicht alle gleich sind. Wir müssen anderen gegenüber Toleranz zeigen. Das wird heute unser Wort des Tages.“ Sie ging zur Tafel und spürte, wie sich sechsundzwanzig Augenpaare in ihren Rücken bohrten. „T-o-l-e-r-a-n-z. Wer weiß, was das bedeutet?“
Sechsundzwanzig Hände schossen in die Höhe.
„Miss Jenkins – ich, ich weiß es.“
Kelly unterdrückte ein Lächeln. Ganz egal, wie gestresst sie war, die Kinder schafften es immer, ihr ein Lächeln zu entlocken. „Jason?“
„Miss Jenkins, der Mann steht vor der Tür.“
Kelly sah im selben Moment hoch, als Alekos die Tür aufriss und ins Zimmer schritt.
Sprachlos vor Schreck starrte sie ihn an und musste verzweifelt feststellen, dass ihr Herz schneller schlug. Hatte sich ihre Mutter beim Anblick ihres Vaters genauso gefühlt, obwohl sie wusste, dass die Beziehung hoffnungslos war?
Die Schüler standen geräuschvoll auf. Kelly spürte einen Kloß im Hals, als die Kinder sie fragend ansahen, ob sie richtig gehandelt hatten. Als sie die Klasse übernommen hatte, waren sie eine wilde Meute gewesen. Jetzt waren sie ein eingespieltes Team.
„Gut gemacht, Kinder“, sagte sie heiser. „Euer Verhalten ist tadellos. Jeder bekommt dafür zwei Sterne im Klassenbuch.“ Es gab ihr Halt, dass sie bei ihr waren. Sie fühlte sich stark genug, Alekos anzusehen. „Das ist der falsche Zeitpunkt. Ich unterrichte gerade.“
„Für mich ist es der richtige Zeitpunkt.“ Ihre Blicke trafen sich, und Kelly spürte, dass sie errötete.
Den sechsundzwanzig Kindern zuliebe bewahrte sie die Fassung. „Wir haben Besuch. Aber was hat er vergessen?“
„Er hat nicht angeklopft, Miss Jenkins.“
„Richtig.“ Kelly zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. „Er hat einfach die Regeln missachtet und nicht angeklopft. Ich gehe deshalb kurz mit ihm vor die Tür und erkläre ihm, welches Verhalten wir in unserem Klassenzimmer erwarten. In der Zwischenzeit schreibt ihr das Gedicht.“
Sie wollte das Zimmer verlassen, aber Alekos hielt sie am Handgelenk fest. Er wandte sich an die Kinder, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.
„Kinder, ich möchte euch jetzt eine Lektion fürs Leben erteilen.“ Seine dunklen Augen musterten die Klasse mit der gleichen Konzentration, die er sonst wohl den Mitgliedern seiner Vorstandssitzungen entgegenbrachte. „Wenn euch etwas wichtig ist, dann müsst ihr dafür kämpfen. Und ihr wartet dann nicht vor der Tür auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen. Ihr geht einfach hinein.“
Diese ungewöhnliche Methode wurde von den Kindern mit verblüfftem Schweigen aufgenommen. Dann schnellten mehrere kleine Hände in die Höhe.
Alekos blinzelte. „Ja, du?“ Er wies auf einen Jungen in der ersten Reihe.
„Aber was macht man, wenn es Regeln gibt?“
„Wenn sie nicht sinnvoll sind, muss man gegen sie verstoßen“, sagte Alekos ohne zu zögern. Kelly rang nach Luft.
„Nein, man darf nicht gegen die Regeln verstoßen. Sie sind dazu da, dass …“
„… man sie infrage stellt“, ergänzte Alekos. „Man muss sich immer fragen, wofür die Regeln da sind. Manchmal muss man gegen sie verstoßen, um Erfolg zu haben. Manche Leute wollen einen daran hindern, bestimmte Dinge zu tun. Versteht ihr?“
Die Kinder schüttelten zweifelnd den Kopf. Kelly versuchte, ihr Handgelenk freizubekommen und die Kontrolle über die Klasse zurückzuerlangen.
Sie unterdrückte ein hysterisches Lachen. Wem wollte sie das weismachen? Ihr würde es nie wieder gelingen, sich in der Klasse Respekt zu verschaffen.
Alekos ließ sie nicht los. „Ich muss mit Miss Jenkins reden, aber sie will mir nicht zuhören. Was soll ich jetzt machen? Soll ich weggehen?“
Eine Hand schoss in die Höhe. „Das kommt darauf an, wie wichtig es für Sie ist.“
„Es ist ungemein wichtig.“ Alekos betonte jedes einzelne Wort, und die Schüler hingen begeistert an seinen Lippen. „Allerdings ist es auch wichtig, dass man dem anderen das Gefühl gibt, ein Mitspracherecht zu haben. Deshalb lasse ich ihr die Wahl, wo wir uns unterhalten. Kelly?“ Er drehte sich zu ihr, seine schwarzen Augen funkelten. „Hier oder
Weitere Kostenlose Bücher