Julia Extra Band 0347
Expertin. Praktisch sah es freilich anders aus. Seit er diese entstellende Narbe hatte, hatte er keine Lust auf den Umgang mit Frauen – selbst wenn es sich um eine intellektuelle Brillenschlange mit straffem Zopf und maskuliner Kleidung wie Dr. Lister handelte. Auf der Quinta waren die einzigen Frauen seine Angestellten, obwohl er früher von schönen, willigen Frauen umringt gewesen war. Grimmig strich er mit dem Finger über die Narbe. Nicht nur sein Gesicht, alles hatte sich an jenem Tag verändert, als ihn das Glück verlassen hatte.
Katherine legte sich mit einem Buch auf das Bett. Inzwischen hatte sie sich wieder gefangen. Roberto de Sousas Reaktion auf sie hatte sie tiefer gekränkt, als sie sich eingestehen wollte. Mit ihrer dichten braunen Mähne, den schillernden grünen Augen und der schlanken, wohlgerundeten Figur kam sie beim anderen Geschlecht normalerweise sehr gut an. Offenbar hatte sie beim Treffen mit ihrem Kunden etwas zu sehr die seriöse Kunstexpertin herausgekehrt und ihre weiblichen Vorzüge nicht gut genug herausgestellt. Die Tatsache, dass der Kunde einen Mann als Experten bevorzugt hätte, war ein weiterer Schlag. Sollte sich das Bild als Fälschung oder als unbedeutendes Werk herausstellen, würde Roberto de Sousa ihr Urteil womöglich anzweifeln. Wenn schon! Sie würde sich von James Rückendeckung geben lassen und ihm per E-Mail Fotos des Gemäldes senden, um seine Einschätzung zu erfahren. Judith Massey würde es ihr danken, wenn sie ihren zur Untätigkeit verdammten, rekonvaleszenten Gatten ein wenig ablenkte.
Schon vor der Reise hatte sich Katherine gefragt, ob man sie auffordern würde, das Essen mit ihrem Gastgeber und dessen Familie einzunehmen. Bisher war von einer Familie jedoch noch nicht die Rede gewesen. Während des Flugs hatte Katherine überlegt, was Roberto de Sousa wohl für ein Mensch sein würde, aber auf seine Reaktion auf sie war sie nicht vorbereitet gewesen. So eine Abfuhr hatte sie noch bei keinem Mann erlebt. Auch auf sein feindseliges Verhalten war sie nicht vorbereitet gewesen. Es hatte sie genauso überrascht wie sein jugendliches Alter und sein dunkles, markantes von einer Narbe gezeichnetes Gesicht. Doch sie würde ihm schon noch beweisen, dass sie auch als Frau für die Expertise seines Bildes ausreichend qualifiziert war. Dennoch war ihr bei der Aussicht auf ein gemeinsames Dinner etwas mulmig zumute.
Katherine hatte vorgehabt, ihr ärmelloses grünes Etuikleid anzuziehen, das ein paar raffinierte Falten hatte, die ihren Kurven schmeichelten. Doch nach kurzem Überlegen wählte sie stattdessen ein schlichtes schwarzes Leinenkleid und verzichtete bewusst auf Schmuck und Make-up. Heute Abend würde sie in der Rolle der Intellektuellen brillieren und sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen von diesem Mann mit seiner faszinierenden Ausstrahlung aus kalter Überheblichkeit und tiefer Melancholie. Bei einem Mann seines Alters, der noch dazu aus südlichen Gefilden stammte, hätte sie ein offeneres Naturell erwartet, aber vielleicht war er vor seiner Gesichtsverletzung ja anders gewesen.
Kurz vor acht klopfte Lidia an, um Katherine mitzuteilen, dass Senhor Roberto sie erwarte. Katherine setzte die Brille auf und überprüfte mit einem letzten Blick in den Spiegel, dass sich keine Strähne aus dem straffen Zopf gelöst hatte. Sie fühlte sich wie ein Gladiator vor der Schlacht, als sie Lidia nach unten in die Halle folgte, wo Jorge sie bereits erwartete. Er geleitete sie auf die Veranda, an deren efeuumrankten Säulen kleine Lämpchen brannten, die ein warmes Licht verströmten und die Veranda noch einladender machten.
Roberto de Sousa erhob sich langsam aus seinem Rattanstuhl und starrte Katherine eine Weile schweigend an. Dann schien er sich auf seine Manieren zu besinnen und wünschte ihr einen guten Abend.
Muss er immer erst eine halbe Ewigkeit nachdenken, bevor er etwas sagt? fragte Katherine sich.
„Lidia schmollt ein wenig, weil ich hier draußen essen möchte“, erwiderte er, während er sie zu einem Tisch führte. „Der Speisesaal ist für zwei Leute zu groß. Ich dachte, dass es Ihnen auf der Veranda besser gefällt.“ In Wahrheit war er es, der draußen essen wollte, weil er hoffte, seine Narbe werde in dem weichen Licht weniger auffallen.
„Ja, es ist wunderschön hier.“ Sie bemerkte, dass auf dem Tisch nur zwei Gedecke lagen. Also keine Ehefrau; zumindest nicht hier.
Er zog ihr einen Stuhl hervor. „Was wollen Sie trinken?
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