Julia Extra Band 0349
Hause zu rasen. Es genügte, an einem Autounfall am Tag schuld zu sein!
Einige Leute winkten ihr zu, und während Libby zurückwinkte, fragte sie sich, ob die sie wirklich mitleidig angeschaut hatten? Oder wurde sie paranoid?
Das Dorf war klein, jeder kannte jeden – und dessen Geheimnisse. Nur gab es keine, soviel sie wusste.
Oder war sie die Einzige, die völlig ahnungslos war?
Als sie die besonders enge Kurve eineinhalb Kilometer hinter dem Dorf ansteuerte, hatte sie sich so viele mögliche Katastrophen ausgemalt, dass ihr ganz elend zumute war.
Langsam fuhr sie durch die Kurve und etwa zweihundert Meter weiter, wo die Auffahrt zu „Maple House“, ihrem geliebten Zuhause, abzweigte. Besucher verfehlten diese häufig, denn das früher beeindruckende Portal hatte, genau wie das Haus, schon bessere Tage gesehen. Einer der zwei steinernen Greife auf den bröckelnden Pfeilern war abgestürzt, der eine schmiedeeiserne Torflügel mit dem Namenszug „Marchant“ lehnte an der Mauer, die das Grundstück umgab. Ihn wieder einhängen zu lassen zählte zu den Aufgaben, die man sich stets aufs Neue vornahm, die aber keiner ausführte. Inzwischen war er von Moos und Efeu fast ganz überwuchert.
Heute hatte Libby kein Auge für diese Anzeichen des fortschreitenden Verfalls, während sie voller böser Vorahnungen die holprige Allee zum Haus hinauffuhr.
Davor stand der Van ihres Bruders, den er statt eines Sportwagens fuhr, seit er und seine Frau Meg vor zwei Jahren Zwillinge bekommen hatten.
Das war ein schlechtes Zeichen. Meg würde demnächst das dritte Kind zur Welt bringen, und es ging ihr nicht gut. Wenn Ed sie in Schottland allein ließ und den weiten Weg zu seinen Eltern auf sich nahm, musste ein wirklich dringlicher Grund dahinterstecken.
Wenn Libby verreist gewesen war, spürte sie beim Nachhausekommen immer innere Ruhe und Wohlbefinden, sobald sie das alte Haus wiedersah, denn es symbolisierte für sie Sicherheit, Geborgenheit und Tradition.
Heute ging es ihr anders, als sie ausstieg. Als Erstes fiel ihr auf, wie ruhig es war, abgesehen vom Gurren der Waldtauben. Diese Stille war ebenfalls ein schlechtes Zeichen!
Die Marchants waren eine fröhliche Familie und hießen üblicherweise ihre Besucher lautstark willkommen. An sich hätten sie sich bereits um Libby drängen müssen, um sie zu umarmen, sobald sie die Autotür geöffnet hatte, aber heute ließ sich niemand blicken.
Wo waren denn alle?
Ein kalter Schauer kroch Libby über den Rücken, als sie zur großen Eingangstür ging, wobei sie noch immer hoffte, die würde sich gleich öffnen und ihre Familie würde herausgelaufen kommen.
Mit bebenden Fingern zog Libby den Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. Drinnen lag Post auf der Fußmatte, meist Reklame, wie sie bemerkte. Sie hob die Zettel auf und schob die Tür mit dem Fuß zu.
In der Halle hörte man nur das Ticken der alten Standuhr, die nie richtig ging.
„Mum? Dad? Ed! Wo seid ihr denn?“, rief Libby beklommen.
Da wurde die Tür zum Salon geöffnet, und Meg kam heraus. Sie war eine hübsche Brünette und unübersehbar schwanger.
„Du?“, fragte Libby erstaunt. „Was machst du denn hier?“
Sie wusste, dass Meg sich schonen sollte, weil die Schwangerschaft nicht ganz komplikationslos verlief. Und dann machte sie die lange Reise von Schottland, vermutlich mitsamt den zweijährigen Zwillingen, was alles andere als Schonung bedeutete?
Das verhieß bestimmt nichts Gutes.
„Oh, Libby, ich bin ja so froh, dass du da bist“, rief Meg. „Alles ist so schrecklich. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und Ed ist derartig …“ Sie biss sich auf die Lippe.
„Was ist denn los?“
„Die reine Hölle“, antwortete Meg und begann zu schluchzen.
Das ist ja schlimmer als alles, was ich mir ausgemalt habe, dachte Libby und eilte in den Salon.
Ihr wurde eiskalt, und das nicht, weil im Kamin kein Feuer flackerte wie sonst üblich. Nein, über dem Raum hing förmlich eine Wolke von Düsterkeit, die alles Licht zu schlucken schien wie ein schwarzes Loch im Weltall.
Sofort erkannte Libby, dass ihre Lieben vollzählig versammelt waren, und atmete auf. Wenigstens war niemand gestorben.
„Dem Himmel sei Dank“, rief sie erleichtert.
Ed sah sie nach Art des älteren Bruders daraufhin streng an, ihr Vater wirkte orientierungslos, und ihre Mutter beschäftigte sich seltsamerweise weiter mit dem Arrangieren von Rosen in einer Vase auf dem Schreibtisch. Das verlieh der ganzen Szene etwas
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