Julia Extra Band 0354
kaum erwarten, obwohl sie wusste, wie gefährlich die Situation für sie werden konnte. Denn die Gefühle, die sie jahrelang verdrängt hatte, waren heftiger denn je entflammt. Doch weshalb sollte sie sich nicht auf ein erotisches Abenteuer einlassen und es einfach genießen? Sie war alt genug, um Sex und Liebe auseinanderzuhalten.
Sie hatte ihre Erfahrungen gemacht und war darüber erwachsen geworden. Sie hatte einige Enttäuschungen durchgemacht, ohne daran zu sterben, und wusste, dass noch etliche folgen würden, die sie ebenfalls überleben würde. Warum sollte sie das zeitlich begrenzte Zusammensein mit einem derart attraktiven Mann wie Oscar nicht genießen?
Alles war gut, solange sie sich keine Hoffnungen auf Dauerhaftigkeit und Beständigkeit machte. Vor zehn Jahren war sie romantisch und naiv gewesen, und das war ihr damals zum Verhängnis geworden. Ein zweites Mal würde ihr das nicht passieren. Als erwachsene und realistisch denkende Frau war sie in der Lage, die Gegenwart zu genießen, ohne an die Zukunft zu denken.
Helena räumte gerade die Waschmaschine ein, als Louise ganz außer Atem den Hauswirtschaftsraum betrat. Sorge stand auf ihrem Gesicht.
„Helena, ich habe schlechte Nachrichten. Meine Cousine Sarah hat mich gerade angerufen, sie liegt im Krankenhaus. Sie hatte eine Netzhautablösung und musste an den Augen operiert werden. Es ist alles gut gegangen, und sie darf bereits Montag wieder nach Hause, wird aber einige Zeit einen Verband tragen müssen und daher nicht sehen können. Wir haben uns schon immer gut verstanden, und sie hat mich gefragt …“ Louise verstummte.
„Das ist kein Problem für mich, Louise, wirklich nicht“, beruhigte Helena sie, hakte sie unter und ging mit ihr zurück in die Küche. „Weißt du schon, welchen Zug du nehmen willst? Ich fahre dich natürlich zum Bahnhof.“
„Morgen um halb zwölf“, antwortete Louise und setzte sich an den Tisch. „Wann ich zurückkommen kann, steht allerdings in den Sternen. Du weißt ja, bei alten Leuten dauert die Heilung immer etwas länger. So ein Pech! Warum musste es ausgerechnet jetzt passieren, wo du hier bist!“
„Mach dir keine Gedanken, ich bleibe ja noch länger.“ Helena lächelte ihr aufmunternd zu und ging zum Herd, um Wasser für einen Tee aufzusetzen. „Wir werden bestimmt noch einige Zeit zusammen haben.“
„Und dann noch ein zweiter unglücklicher Zufall!“ Louise beruhigte sich immer noch nicht. „Benjamin ist über das Wochenende in London, er darf seine Kinder sehen, was nur selten der Fall ist. Seine geschiedene Frau macht ihm Schwierigkeiten und versucht, die Besuche nach Möglichkeit zu verhindern.“ Nachdenklich blickte sie vor sich hin. „Ich verstehe diese Frau wirklich nicht, Benjamin ist doch so ein netter Mann, so einfühlsam und zuverlässig.“
Helena nickte. „Oscar hat mir die Geschichte erzählt.“
Sein Name schien für Louise der Anlass zu sein, das Thema zu wechseln. „Es muss für dich doch sehr aufregend sein, dass du ihn nach all den Jahren wiedergetroffen hast, oder? In den letzten Jahren war Oscar leider nur sehr selten hier. Isobel verstand das und hat sein Pflichtbewusstsein und seinen Einsatz für die Firma bewundert. Nun ja, ich erinnere mich gern an früher, als ihr beide noch Teenager wart. Da hat er seine gesamten Ferien hier verbracht. Das waren noch schöne Zeiten!“
„Ja, ich fand die Wochen mit ihm auch immer besonders schön“, antwortete Helena vorsichtig und goss den Tee auf. „Doch das ist lange her, wir haben uns aus den Augen verloren. Bei der Testamentseröffnung habe ich Oscar nach all den Jahren zum ersten Mal wiedergesehen. Und wenn er nach Mulberry Court kommt, dann nicht, weil er sich erholen möchte, sondern weil es für ihn hier noch so viel zu regeln gibt.“
Louise seufzte. „Das Schicksal geht schon eigenartige Wege.“
Helena konnte ihr nur zustimmen.
Sonntag gegen Mitternacht schreckte ein ungewohntes Geräusch Helena aus dem Schlaf. Woher kam es? Schlagartig war sie hellwach und richtete sich im Bett auf. Das Herz schlug ihr bis zum Halse.
Nachdem sich eine Weile nichts regte, stand sie mutig auf, zog den Vorhang zurück und blickte aus dem Fenster. Der Garten lag friedlich im Mondschein, nicht die kleinste Wolke war am Himmel zu sehen, und der Wind rauschte leise in den Bäumen. Doch irgendetwas stimmte nicht.
Helena warf sich ihren Morgenmantel über, steckte ihr Handy ein und schlich lautlos die Treppe hinunter. Sie trat
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