Julia Extra Band 0354
hatte.
Plötzlich erinnerte sich Helena an etwas. Lächelnd erhob sie sich, ging zu einer Kommode mit kunstvollen Einlegearbeiten und kniete sich davor hin. Sie zog die unterste Schublade auf und tastete vorsichtig eines der Seitenbretter ab. Und wirklich, da war sie immer noch, die kaum spürbare Vertiefung, in die man drücken musste, um ein kleines, in der Rückwand verborgenes Geheimfach zu öffnen.
Isobel hatte der kleinen Helena damals versprochen, das Versteck gehöre allein ihr, und kein anderer Mensch solle je davon erfahren.
Helena schob die Hand in den Hohlraum und hielt den Atem an. Ihre Finger stießen auf Widerstand! Vorsichtig tastend beförderte sie zwei Briefumschläge ans Tageslicht. Den einen erkannte sie sofort. Sie hatte ihn im Nachlass ihres Vaters gefunden und war der handschriftlichen Anweisung auf der Rückseite kommentarlos nachgekommen.
Bitte ungeöffnet an Mrs Isobel Theotokis weiterleiten!
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den zweiten Umschlag näher betrachtete. Auch er trug einen handschriftlichen Vermerk.
An Miss Helena Kingston persönlich.
Reglos kniete Helena vor der Kommode. Das Ganze war so fantastisch, dass sie beinahe an ihrem Verstand zweifelte. Doch die Briefe in ihrer Hand waren keine Einbildung. Erst nach geraumer Zeit stand sie auf, öffnete die Umschläge und breitete die dicht beschriebenen Blätter auf dem Tisch aus.
Zehn Tage später wartete Helena auf Oscar, der am späten Nachmittag nach Mulberry Court zurückkommen wollte. Giorgios Theotokis war im Beisein seiner Frau und seines Sohnes sanft entschlafen. Am Telefon hatte ihr Oscar nur die nüchternen Fakten mitgeteilt, doch seiner Stimme war anzuhören gewesen, wie sehr ihn der Verlust mitnahm.
Trotzdem, das Leben ging weiter – auch für sie, auf die nichts weiter wartete als ihr altes Auto in einer Londoner Werkstatt. Dennoch lächelte sie plötzlich, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Es war auch möglich, sich über das Glück anderer zu freuen.
Helena saß im Wintergarten und blickte auf die Uhr. Oscar hatte vom Flugplatz aus angerufen, er würde sich verspäten, denn es sei Stau gemeldet worden. Wieder fragte sie sich, weshalb er schon so kurz nach der Beerdigung seines Vaters nach Mulberry Court zurückwollte. Als sie ihn am Telefon darauf ansprach, hatte er lediglich erklärt, er habe dort zwei wichtige Dinge zu erledigen, die keinen Aufschub duldeten.
Der Sommerabend war eigentlich viel zu schön, um ihn im Haus zu verbringen. Entschlossen stand Helena auf, um in der Küche die letzten Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen. Sie bereitete ein Salatdressing und wusch die Kirschen, die sie am Vormittag zusammen mit italienischem Weißbrot und einigen ausgesuchten Delikatessen auf dem Markt in Dorchester gekauft hatte.
Wieder blickte sie auf die Uhr und griff dann kurz entschlossen zu Zettel und Stift. Sie schrieb Oscar eine Nachricht, sie wolle bei dem schönen Wetter noch einen kleinen Spaziergang machen, und lehnte die Notiz an die Schüssel mit den Kirschen.
Nach einem kritischen Blick in den Spiegel machte sie sich auf den Weg. Sie trug ein schlichtes blaues Leinenkleid und Riemchensandalen. Das Haar hatte sie aus dem Gesicht gekämmt und zu einem französischen Zopf geflochten, der ihr bis auf den Rücken hing.
Beschwingt ging sie über die Wiese zum Wäldchen hinüber. Wie schön es hier war! Trotzdem wollte ihr die kleine griechische Insel nicht aus dem Sinn gehen. Das Glück, das sie dort erlebt hatte, würde sie nie vergessen.
Wie hatte Oscar sie nur so tief verletzen können, kaum dass sie den Fuß über die Schwelle von Mulberry Court gesetzt hatten? Wie hatte er eine andere Frau auch nur erwähnen können, nachdem er sie nur Stunden zuvor mit verzehrender Leidenschaft geliebt hatte?
Die Nachricht, er wolle das Haus nicht verkaufen, sondern in der Familie behalten, hatte die Sache nicht besser gemacht. Als ob das ein Trost wäre! Die Liebe zu ihm war für sie entscheidend, nicht die zu Mulberry Court. Selbstkritisch musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie das nicht immer so klar zum Ausdruck gebracht hatte.
Sie schritt energischer aus. Es lohnte nicht, sich diesen herrlichen Sommerabend durch düstere Gedanken zu verderben. Die ständige Grübelei zehrte an ihren Kräften. Das musste sich ändern!
Als sie durch den Obstgarten ging, sah sie sich nach Benjamin und Rosie um, konnte aber weder Herr noch Hund irgendwo entdecken. Ach, der gute alte Benjamin! Sie
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