Julia Extra Band 0354
Schicksal seines Vaters belastete ihn immer noch, und Helena fühlte mit ihm. „Mir blieb keine Alternative“, fuhr er schließlich fort. „Da ich meinen Vater sehr geliebt habe und mich dem Familienunternehmen verpflichtet fühlte, gab es nur eine Lösung: Ich musste möglichst schnell möglichst viel lernen, um seine Position zu übernehmen. Die Zeit, die meinem Vater noch zur Verfügung stand, um mich auf diese Aufgabe vorzubereiten, war äußerst kurz.“
Helena war nicht entgangen, wie schwer es Oscar fiel, über die Vergangenheit zu sprechen. Doch es gab eine Frage, die sie ihm nicht ersparen konnte. „Warum bist du damals wortlos aus meinem Leben verschwunden? Warum hast du mit mir nicht über deine Probleme geredet? Ich hätte dich verstanden und hätte auf dich gewartet. Das hättest du doch wissen müssen.“
„Wie hätte ich ein solches Opfer von dir, einer Achtzehnjährigen, verlangen können? Du hattest noch nichts erlebt und standest im Begriff, endlich dein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Das solltest du genießen, du solltest frei sein, studieren, eigene Erfahrungen machen und deinen Weg finden. Nichts sollte dich dabei belasten.“
Er seufzte. „Ich wusste, welch langer und mühsamer Weg vor mir lag, ich wäre für dich nur ein Klotz am Bein gewesen. Zudem hatte ich meinem Vater versprechen müssen, mit niemandem über seine Krankheit zu sprechen, auch nicht mit meinen besten Freunden. Daran fühlte ich mich gebunden.“
Helena schüttelte den Kopf. „Ich konnte mir dein Verhalten nicht erklären … alles war so unsagbar schwer für mich.“
„Meinst du, mir ist es anders ergangen?“ Er lachte bitter. „Ich war auch verzweifelt, das kannst du mir glauben. Was meinst du, wie furchtbar es für mich war, dich zu verlassen, ohne dir die Gründe dafür nennen zu dürfen? Ich habe dauernd an dich denken müssen, Helena. Die Vorstellung, du wärest inzwischen die Frau eines anderen, hat mich fast wahnsinnig gemacht.“
Er sprang auf und ging unruhig auf und ab. „Ironischerweise half mir der Leistungsdruck, unter dem ich stand, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich war so gefordert, dass ich keine Zeit für Gefühle hatte. Ein Berg von Arbeit und eiserne Disziplin bewahren einen davor, sich nach Liebe zu sehnen.“
Auch Helena stand jetzt auf und ging langsam auf Oscar zu. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Er hätte es einfacher haben können, denn sie hätte auf ihn gewartet – warum glaubte er ihr das nicht? Selbst als sie annehmen musste, er wolle nichts mehr von ihr wissen, hatte sie ihr Herz keinem anderen geschenkt.
Zärtlich küsste er sie auf den Scheitel. „Muss ich jetzt Buße tun und dich auf Knien bitten, meine Frau zu werden?“, fragte er mit rauer Stimme.
Lächelnd blickte sie zu ihm auf. „Die Frage kannst du dir selbst beantworten. Ich liebe dich noch ebenso wie damals!“
Sie küssten sich so lang und innig, wie sie es früher getan hatten – und wie sie es von nun an jeden Tag tun würden.
„Ich muss dir unbedingt etwas erzählen“, meinte Helena unvermittelt und legte den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Es klingt wie ein Märchen.“
Fragend zog er die Brauen hoch.
„Ich habe mich an das Geheimfach der indischen Kommode in meinem Zimmer erinnert, das Isobel mir als kleines Mädchen gezeigt hat. Es ließ sich ganz einfach öffnen. Was meinst du wohl, was ich darin gefunden habe?“
„Du hast von einem Märchen gesprochen, also nehme ich an, einen Schatz.“
„Ja, aber keinen aus Gold und Silber, sondern aus Papier. Es handelt sich um die schönsten Briefe, die ich je gelesen habe – Liebesbriefe.“ Sie lächelte versonnen. „Isobel und mein Vater haben an ihrem Lebensabend ihre Zuneigung zueinander entdeckt. Wusstest du das? Sie schrieben sich Briefe und Gedichte – die beiden waren ein richtiges Liebespaar.“
Oscar erstaunte das nicht weiter. Warum auch nicht? Daniel Kingston war ein attraktiver und charmanter Mann gewesen, den die körperliche Arbeit in der freien Natur lange fit gehalten hatte – der ideale Partner für Isobel. Liebe war schließlich kein Privileg der Jugend.
„Wer, meinst du, hat die Briefe dort versteckt?“, fragte er.
„Außer Isobel weiß nur ich von dem Fach. Sie muss sie also speziell für mich dort aufbewahrt haben.“ Helena schloss kurz die Augen. „Ich freue mich so für meinen Vater, er war der beste Dad der Welt. Wie wunderbar für
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