Julia Extra Band 159
Worten etwas abhing, das ihr mehr als ihr eigenes Leben bedeutete, gelang es ihr eine Zeitlang, sieh zusammenzureißen und sich darauf zu konzentrieren, was er sagte. Immer wieder aber gingen ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung.
Sie erkannte jetzt, daß die Zeit nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war. Als junger Mann hatte er fast weiche Gesichtszüge gehabt, die jetzt strenger geworden waren. Mit sechsundzwanzig war er sehr attraktiv gewesen, jetzt mit zweiunddreißig gab ihm die dunkle Gefahr, die manchmal in seinen Augen aufblitzte, ein noch unwiderstehlicheres Aussehen. Beth wurde auch bewußt, daß sie sich selbst verändert hatte.
Vor sechs Jahren wäre sie unfähig gewesen, den eleganten Schnitt seiner dunklen Hose zu schätzen oder die außergewöhnliche Qualität des Seidenhemdes. Nein, vor.sechs Jahren kannte sie nichts von diesen unwichtigen Dingen, die sie in der Zwischenzeit erlernt hatte ... Damals hatte sie ihn einfach nur geliebt. Mit ihrem Körper und ihrer Seele und allem, was sie zu geben hatte.
Als er den Vortrag beendet hatte, machte er eine Pause.
„Gibt es noch etwas, das du wissen möchtest?"
„Nein, es war sehr ausführlich."
„Gut, falls dir später noch etwas einfällt, zögere nicht, es mich wissen zu lassen."
„Das ist sehr nett von dir", gab Beth steif zurück. „Vielen Dank."
„Ich nehme an, daß sich die Großmutter des Kindes um ihn kümmert."
Beth fühlte erneut einen unglaublichen Schrecken. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
„Ja."
„Sie ist dir sicher eine große Hilfe."
„Ich wüßte .nicht, was ich ohne sie tun sollte", antwortete Beth kühl. Hatte er etwas bemerkt? Was wußte er?
„Normalerweise hätte ich deinen Sohn selbst untersucht, be vor ich mit dir gesprochen habe, aber es gab einen Notfall, und ich bin erst vor kurzem zurückgekommen." Er sprach, als ob er auf eine Frage antworten wollte, die sie gar nicht gestellt hatte. „Ich hatte gerade genug Zeit, mit dem Kinderarzt zu sprechen, der deinen Sohn behandelt. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht einmal, wie alt er ist und wie er heißt."
„Jacey”, stieß sie hervor, und dabei gelang es ihr kaum, einen feindlichen Ton in der Stimme zu unterdrücken. Jaime Carlos, so hieß ihr Sohn, da sie ihn nach seinem Vater benannt hatte.
„Ein ungewöhnlicher Name.
„Vielleicht", entgegnete sie und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, daß das alles nur ein Alptraum war. „Aber das ist nun einmal sein Name."
„Und wie alt ist er?"
„Fünf, im April hatte er Geburtstag", sagte sie und schaute ihm direkt ins Gesicht.
Bestimmt war ihm aufgefallen, wie sie alle Muskeln des Körpers zusammengezogen hatte und wie ihr das Blut in die Wangen geschossen war. Schnell versuchte er, den Zorn, der in seinem Blick brannte, zu verdrängen, doch war es schon zu spät. Beth hatte es genau gesehen ... Die gleiche Wut hatte damals in seinen Augen gelegen. Damals vor sechs Jahren. Die Erinnerung daran wurde fast unerträglich.
„Ich kann dir versichern, Beth,. daß dein Sohn die bestmögliche Pflege erhält."
„Da bin ich sicher", murmelte Beth mit weichen Knien. Natürlich würde man in dieser Klinik alles für ihren Sohn tun, schließlich war das doch kein Alptraum, sondern Wirklichkeit. Die Vorstellung aber, daß sie diesem Mann noch einmal vertrauen mußte, ließ sie erzittern.
„Du scheinst nicht hundertprozentig überzeugt zu sein", beobachtete Jaime. „Beth, wenn es ein Problem für dich ist, mich wiederzusehen, dann ..."
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst." Die Lüge war ihr fast unwillkürlich herausgerutscht. „Es ist doch immer gut, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat. Selbst wenn es der Teufel in Person ist. Im übrigen habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, daß du ein sehr guter Arzt bist."
„Beth, wir können doch nicht so tun, als ob ..." Er brach ab, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Auf spanisch sagte er: „Sehr schön. Und ein wenig Kaffee würde uns auch guttun. Vielen Dank." Mit diesen Worten wandte er sich wieder an Beth: „Wir machen einige Routineuntersuchungen mit deinem kleinen Jungen, deshalb kommt seine Großmutter so lange hierher zu uns." Er warf einen Blick auf die Uhr.
„Ich habe noch ein wenig Zeit, um auf die Fragen zu antworten, die sie vielleicht hat. Aber wenn du lieber mit ihr allein sein möchtest ..."
„Nein, danke ... Ich möchte, daß du bleibst", stammelte Beth, da sie wünschte, daß er mit seiner ruhigen Art
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