Julia Extra Band 348
sich, die sie gewesen war. Dabei fragte er sich zum ersten Mal, ob sie sein Angebot womöglich ausgeschlagen hatte, weil es einfach nicht zu ihr passte. Weil sie viel zu bodenständig war, um sich über längere Zeit hinweg in der Rolle der Geliebten eines reichen Mannes wohlzufühlen. Vielleicht hatte sie ja befürchtet, über kurz oder lang ihre Identität zu verlieren.
Als sie sich vorbeugte, um ihm Limonade einzuschenken, sah er, dass ihr ein winziger Schweißtropfen über den Hals rann, den er am liebsten mit der Zungenspitze aufgefangen hätte. Sobald ihm bewusst wurde, was er da dachte, schüttelte Nikolai über sich selbst den Kopf. Was war los mit ihm, machte ihm die Hitze zu schaffen, oder was?
„Also.“ Zara nahm den anderen Stuhl und setzte sich so, dass sie Nikolai ins Gesicht sehen konnte. Das war verrückt. Mehr als verrückt. Sie hatte sich immer mit dem Gedanken getröstet, dass Nikolai sich in ihrer vertrauten Umgebung ganz bestimmt nicht wohlfühlen würde, und doch konnte man jetzt fast den Eindruck gewinnen, dass er nirgendwo anders hingehörte als in ihren kleinen Garten. „Was führt dich hierher?“
„Ich wollte dir erzählen, dass ich deinem Rat gefolgt bin.“
„Du bist meinem Rat gefolgt?“, wiederholte sie verständnislos.
Er konnte ihr ansehen, wie perplex sie war. Aber für ihn selbst war der Schock noch weit größer gewesen. Wenn ihm bei ihrer Trennung irgendwer vorhergesagt hätte, dass er über ihre Worte noch gründlich nachdenken und sogar danach handeln würde, hätte er laut gelacht. „Ich habe mir noch mal durch den Kopf gehen lassen, was du gesagt hast.“ Er schwieg einen Moment. „Da wurde mir klar, dass ich herausfinden muss, was mit meiner Mutter passiert ist.“
Zara wollte kaum glauben, was sie da hörte, und versuchte in seinen Augen zu lesen, aber es gelang ihr nicht. „Und hast du es herausgefunden?“
„Ja.“ Als in der Ferne irgendwo eine Frauenstimme zum Essen rief, wurde Nikolai plötzlich bewusst, wie unterschiedlich die Menschen ihr Leben lebten. Und er dachte an seine Mutter und an das, was er über sie in Erfahrung gebracht hatte.
Dann begann er zu erzählen: „Ziemlich schnell nach ihrer Ankunft fand sie einen Job in einer Fabrik, wo sie am Fließband Salat abgepackt hat. Die Arbeit war öde und schlecht bezahlt, hinzu kamen massenhaft Überstunden, aber meine Mutter verdiente immer noch mehr, als sie in Moskau jemals hätte bekommen können. Ihre Arbeitskolleginnen waren ebenfalls Immigrantinnen, die in engen Wohnwagen ganz in der Nähe der Fabrik zusammengepfercht lebten. An den Samstagen fuhren sie manchmal alle zusammen in die nahe gelegene Stadt zum Tanzen. Bei einem dieser Ausflüge lernte meine Mutter einen Mann kennen.“ Nikolai holte tief Luft und fuhr dann fort: „Er war ziemlich viel älter als sie, sehr reich … und hingerissen von ihrer Schönheit. Ihre Situation ging ihm so nah, dass er ihr zusätzliches Geld gab, damit sie es mir schicken konnte. Und irgendwann hat er ihr sogar ein Haus gekauft, in dem sie bis zu ihrem Tod lebte.“
Als er die unausgesprochene Frage in Zaras Augen las, fuhr er mit einem Schulterzucken fort: „Ja, sie schlief mit ihm und nahm Geld von ihm, doch nach allem, was ich herausfinden konnte, haben sich die beiden aufrichtig geliebt. Aber er war verheiratet, und das war ein unüberwindliches Hindernis zwischen ihnen. Immerhin war er aufrichtig genug, meiner Mutter von Anfang an unmissverständlich zu sagen, dass er nicht bereit sei, seine Frau und seine Kinder zu verlassen.“
Zara schüttelte verwirrt den Kopf. „Und was ist mit dem Geld passiert, das für dich bestimmt war?“
„Das hat sie mir wohl tatsächlich geschickt, und es war sehr viel Geld. Aber es hat seinen Empfänger leider nie erreicht.“ Er ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Meine Tante hat alles eingesteckt und vermutlich zusammen mit ihrem Geliebten durchgebracht. Noch schlimmer aber ist, dass sie auch die meisten Briefe, die meine Mutter mir geschrieben hat, vernichtet hat.“
„Oh, Nikolai.“ Zara schlug sich die Hand vor den Mund. „Wie schrecklich. Und was … was ist mit deiner Mutter passiert?“
„Sie starb ganz plötzlich, woran genau, konnte mir niemand sagen. Nach ihrem Tod fand man in ihren Sachen Unterlagen, aus denen eindeutig hervorging, dass sie jahrelang vergeblich versucht hat, mich nach England zu holen. Sie hat immer wieder neue Anträge gestellt, die
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