Julia Extra Band 356 - Ebook
musste Kiryl sich eingestehen, aber ihm gefiel nicht, mit welcher Offenheit sie sich ihm anbot. Er wusste, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, und die schöne Fremde würde ihm gehören. Vielleicht war es ja nicht einmal eine schlechte Idee, ihr Angebot anzunehmen. Eine solche Zerstreuung würde ihm helfen, den Ärger und die Frustration zu vergessen, die er beim Gedanken an Vasilii Demidov verspürte.
Es sollte ihm doch ein Leichtes sein, den schlechten Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, wieder auszubügeln! Schließlich hatte er eine Menge Erfahrung mit Frauen, und er wusste, wie man sie am besten für sich gewann. Er rief eine Kellnerin herbei und gab eine Bestellung auf, bevor er zu dem Tisch eilte, an dem die unbekannte junge Frau jetzt auf ihre Rechnung wartete. Sie war offensichtlich im Begriff zu gehen.
„Aber Sie haben Ihren Tee ja noch gar nicht ausgetrunken“, bemerkte Kiryl galant. „Wie wäre es, wenn wir uns einen Samowar teilen würden? Als Erinnerung an unsere gemeinsame Heimat Mütterchen Russland?“
Beim Klang seiner Stimme drehte Alena sich um. Erschrocken stellte sie fest, dass der Fremde die Hand ausgestreckt hatte und nach der ihren griff.
Sein charmantes Lächeln zog sie unwiderstehlich in den Bann. Es ließ seine Gesichtszüge, die vorher so hart und arrogant gewirkt hatten, weicher erscheinen. Der Mann, der vor ihr stand, versprühte die gefährliche Sinnlichkeit eines Kosaken. Er besaß die romantische Ausstrahlung eines Zigeuners, die Unberechenbarkeit eines Piraten und die Anziehungskraft eines Helden. Es wäre Wahnsinn, sich darauf einzulassen.
„Nein, vielen Dank“, erwiderte Alena mit belegter Stimme und räusperte sich. Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, war aber wie gelähmt.
Sein Lächeln wurde jetzt noch gewinnender, geradezu intim. Seine Augen, die sie an Malachite erinnerten, funkelten auf betörende Weise.
„Ich war sehr unhöflich zu Ihnen, und jetzt sind Sie böse auf mich. Wahrscheinlich denken Sie, dass ich Ihre Gesellschaft nicht verdient habe. Und damit hätten Sie wahrlich recht. Andererseits hoffe ich, dass Sie ein Herz haben und mir noch einmal verzeihen.“
Wie charmant er war – charmant und gefährlich. Leider machte ihn das vollkommen unwiderstehlich.
Das Lächeln, das seine Entschuldigung begleitete, enthüllte blendend weiße Zähne und ließ kleinen Lachfältchen um seine Augen in Erscheinung treten. Alena stockte der Atem, und ihr wurde ganz flau im Magen. Doch sie hatte seine Beleidigung noch nicht vergessen, und eine innere Stimme warnte sie, auf der Hut zu sein.
Noch immer hielt der Fremde ihre Hand und begann nun, sanft ihr Handgelenk zu massieren, was ihre Aufgewühltheit noch verstärkte.
„Ich muss gehen, ich …“
Sie sprach akzentfreies, makelloses Englisch. Insgesamt wirkte sie nicht wie eine typische Russin – bis auf die silbergrauen Augen, die Kiryl so sehr an den Fluss Newa und an seine Geburtsstadt erinnerten. Und an den Schmerz, den er dort erlebt hatte.
„Ich habe mir erlaubt, uns Tee zu bestellen. Ach, hier kommt er ja auch schon.“
Zwei Kellnerinnen näherten sich dem Tisch. Eine von ihnen brachte die Rechnung, die andere servierte den Tee. Die Kellnerin mit der Rechnung lächelte Alena höflich zu und sagte: „Bitte entschuldigen Sie, Miss Demidova. Ich dachte, Sie wollten zahlen.“
Demidova – also war sie doch Russin. Mit diesem Namen konnte es gar nicht anders sein. Schließlich war es kein beliebiger Nachname. Es hatte schon etwas Ironisches, dass sie genauso hieß wie Kiryls schärfster Konkurrent. Vielleicht war das ja ein Omen. Seine Stiefmutter, die ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgezogen hatte, war ausgesprochen abergläubisch gewesen. Aber was kümmerte ihn das? Er war schließlich ein moderner, aufgeklärter Mann.
„Wohnen Sie hier im Hotel?“, fragte er und rückte einen Stuhl für sie zurecht. Damit blieb ihr keine andere Wahl, als sich wieder hinzusetzen.
Aus der Nähe betrachtet erschien ihr der Fremde noch überwältigender, noch viel männlicher als zuvor. Selbst in diesem Ambiente hatte er die Aura eines Mannes, der eigentlich in die russische Steppe gehörte – mit ihrer klaren Luft und der Wildheit der Natur. Oh ja, Alena hatte sich nicht getäuscht. Dieser Mann war äußerst gefährlich.
„Ja“, antwortete sie. „Mein Bruder Vasilii hat hier eine Suite, die er bewohnt, wenn er in London ist.“ Alenas Halbbruder war eine Art Nomade, der überall
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