Julia Extra Band 356 - Ebook
der Fremde sollte keinen falschen Eindruck bekommen. „Vasilii will mich nur beschützen“, erklärte sie, „weil er mich liebt und weil … weil er unserem Vater vor seinem Tod versprochen hat, dass er sich immer um mich kümmern wird.“ Sie neigte den Kopf. „Manchmal frage ich mich, ob das der Grund ist, warum Vasilii bislang nicht geheiratet hat. Seine Arbeit nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, und außerdem passt er auch noch auf mich auf. Wie soll er sich da in jemanden verlieben?“
In jemanden verlieben? Was dachte diese junge Frau denn – einer der mächtigsten Männer Russlands hatte bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich in irgendwelche amourösen Abenteuer zu stürzen. Aber das würde er natürlich nicht aussprechen. Jedenfalls war er von Minute zu Minute mehr davon überzeugt, dass er durch eine glückliche Fügung des Schicksals die Achillesferse seines Rivalen gefunden hatte.
Aber sein Motto war immer gewesen, den Tatsachen Vorrang vor Gefühlen zu geben. Damit war er bisher gut gefahren, und diese Haltung würde ihm auch jetzt helfen, seinem Konkurrenten ein Bein zu stellen.
Alena fragte sich insgeheim, ob es ein Fehler gewesen war, diesem Fremden gegenüber ihren Bruder zu erwähnen. Schließlich kannte sie ihn ja gar nicht. Kurz entschlossen setzte sie ihre Teetasse auf dem Tisch ab. „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.“
Kiryl nickte und erhob sich.
„Vielen Dank für den Tee.“
„Es war mir ein Vergnügen. Hoffentlich war es nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnet sind, Alena Demidova.“
Noch bevor sie es verhindern konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und zog sie an seine Lippen. Die Berührung war wie ein Schock für sie. Dieser Mann flirtete mit ihr, und sie hatte dem nichts entgegenzusetzen.
Widerstrebend zog sie ihre Hand zurück und stand ebenfalls auf. Dann fiel ihr Blick auf ihre Armbanduhr. Vasilii! Bestimmt warteten inzwischen schon einige seiner Mails auf sie, und er würde sich Sorgen machen, wenn sie nicht sofort darauf antwortete.
„Bitte entschuldigen Sie, aber es ist schon vier Uhr. Mein Bruder …“
„Ah, Sie sind wie Cinderella, die um Punkt Mitternacht wieder in ihrem Schloss sein muss. Aber wir werden uns wiedersehen, da bin ich mir ganz sicher. Und dann werde ich dafür sorgen, dass sich das Versprechen, das ich in Ihrem Blick lese, auch erfüllt.“
2. KAPITEL
In der Abgeschiedenheit seiner eigenen Suite rief Kiryl seinen Agenten an. Sobald der ältere Mann den Hörer abgenommen hatte, verkündete er ohne größere Vorreden: „Alena Demidova, die Schwester von Vasilii Demidov. Ich will alles über sie wissen.“
Aus seinem Fenster blickte er auf einen privaten Garten im benachbarten Block, in dem das Februarlicht langsam zu schwinden begann. Aber Kiryl nahm den Ausblick nur am Rande wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf den Plan gerichtet, der sich in seinem Kopf langsam zu formieren begann.
„Und ich meine alles, Ivan – angefangen von ihren Freunden über ihre Hobbys bis hin zu ihrer Lieblingsspeise. Vor allem aber möchte ich etwas über die Beziehung zu ihrem Bruder erfahren. Ich will wissen, wie er zu ihr steht und was seine Pläne für sie sind. Und zwar bis morgen früh!“
Noch bevor der Agent überhaupt antworten konnte, legte Kiryl den Hörer auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Er spürte eine unglaubliche Spannung in seinem Körper. Eine Mischung aus Aufregung, Herausforderung und dem Wissen, dass er ein Spiel spielte, das er gewinnen würde. Alena war der Schlüssel für seinem Triumph über ihren Bruder. Da war er sich sicher. Er konnte es fühlen, spürte es tief in seinem Inneren. Diese Intuition hatte er von seiner Mutter geerbt – seiner Mutter, einer Zigeunerin, die sein Vater so verachtet hatte.
Plötzlich sah er vor seinem geistigen Auge Alena, wie sie ihm beim Teetrinken gegenübergesessen hatte. Wie eine zarte Blume war sie ihm vorgekommen – eine Blume, die ein Mann pflücken und dann in der Hand zerquetschen konnte. Etwas regte sich bei diesem Gedanken in Kiryls Innerem. Etwas, das aus der kurzen Zeit stammte, die er mit seiner Mutter vor deren Tod verbracht hatte. Es war die einzige Zeit in seinem Leben gewesen, in der er sich wirklich geliebt gefühlt hatte. Einen kurzen Moment lang zögerte er. Nein, er konnte sich keine Schwäche leisten – nicht jetzt. Er durfte nicht so kraftlos sein wie seine Mutter, die seinen Vater so geliebt hatte und ihn, Kiryl, gegen dessen Willen
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