Julia Extra Band 356 - Ebook
bekommen hatte. Nein, er musste stark sein. Und sei es nur, um das Bild desjenigen Mannes aus seinem Gedächtnis zu streichen, der ihn verhöhnt und in die Gosse gestoßen hatte.
Jetzt war der Moment der Rache gekommen. Und wenn Alena dabei auf der Strecke blieb, ließ sich das nicht ändern. Für Kiryl war es am wichtigsten, das Versprechen zu halten, das er im Gedenken an seine tote Mutter abgeleistet hatte.
Das Versprechen, das ich in Ihrem Blick gesehen habe … Im kühlen grauen Licht dieses Februarmorgens musste Alena noch einmal an seine Worte denken. Sie lag noch im Bett in der Luxussuite ihres Bruders, gehüllt in Laken aus feinster Seide. Dennoch fühlte sie sich so unbehaglich wie die sprichwörtliche Prinzessin auf der Erbse. Das passte, schließlich schien das Ganze wie ein Märchen. Allerdings keines für Kinder. Denn es handelte von einem Prinzen, der nicht nur schön und stark war, sondern auch sinnlich und sexy. Würde er ihr endlich den leidenschaftlichen Sex zeigen, nach dem sie sich schon so lange sehnte?
War sie deshalb so nervös, wenn sie an ihn dachte? Weil die Begegnung mit einem real existierenden Mann ihren Fantasiebildern vielleicht nicht gerecht werden würde? Dennoch, wenn sie an Sex mit Kiryl dachte, lief es ihr unwillkürlich heiß den Rücken hinunter. Wäre es nicht viel besser, ihn zu vergessen? Bestimmt hätte Vasilii das von ihr verlangt.
Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch.
Später am Vormittag hatte sie einen Termin im Büro der Wohltätigkeitsorganisation, die ihre Mutter ins Leben gerufen hatte. Vasilii wäre es zwar lieber gewesen, wenn sie sich erst mit fünfundzwanzig um solche Dinge gekümmert hätte, doch sie war entschlossen, ihrem Halbbruder zu beweisen, dass sie trotz ihrer Jugend in der Lage war, Verantwortung zu übernehmen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich mit allen Aspekten der Stiftung vertraut gemacht, und sie wusste, dass sie in der Lage war, den Vorsitz zu übernehmen.
Natürlich war es eine sehr große Verantwortung. Zum einen, weil es dabei um mehrere Millionen ging, die ihre Eltern und andere Sponsoren gespendet hatten. Aber vor allem wegen des guten Zwecks, der dahinterstand: nämlich unterprivilegierten Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Alena wollte sich dieser Arbeit mit Leib und Seele widmen. Hoffentlich erfuhr ihr Bruder nur nie von ihrer Begegnung mit Kiryl. Er würde sie wohl für unreif und unverantwortlich halten und wäre vielleicht nicht mehr gewillt, ihr eine solche Verantwortung zu übertragen.
Ihre Mutter hatte oft gesagt, dass die Stiftung eine Möglichkeit für sie war, sich dem Leben gegenüber für die Liebe ihres russischen Mannes zu bedanken. Und auch wenn Alena sich manchmal darüber ärgerte, wie sehr ihr Halbbruder ihr Leben beherrschte, so verzieh sie ihm doch vieles, weil sie wusste, dass er ihre Mutter genauso geliebt hatte wie sie selbst.
Wollte sie jetzt wirklich alles, wofür sie bisher so hart gearbeitet hatte, riskieren? Nur weil sie sich in einen Mann verkuckte hatte, der ihr die Sinne verwirrte? Ihre Schwärmerei hatte wahrscheinlich so viel Substanz wie ein Regenbogen über der Newa.
Sie machte sich keine Illusionen darüber, wie Vasilii reagieren würde, wenn er von Kiryl erfuhr. Er würde entsetzt und sehr wütend sein. Aber schließlich musste er es ja nicht erfahren. Denn dieses Problem ließ sich ganz einfach lösen – sie würde Kiryl nicht wiedersehen. Stattdessen würde sie sich auf ihre Arbeit bei der Stiftung konzentrieren und ihrem Bruder beweisen, dass sie reif genug war, die Nachfolge ihrer Mutter anzutreten.
Als Alena zwei Stunden später vor dem großen Bürogebäude aus dem Taxi stieg, strich sie sich den Kaschmirmantel glatt und holte erst einmal tief Luft. Von ihrer Mutter wusste sie, dass die äußere Erscheinung stets wichtig war. Es war zwar ihr gutes Recht, die Position ihrer Mutter zu übernehmen und deren Erbe anzutreten, aber Alena wusste, dass sie auch die Unterstützung der Mitarbeiter brauchte, um Erfolg zu haben. Sie musste ihr Vertrauen gewinnen, um die gute Sache, für die sie alle kämpften, erfolgreich weiterzuführen. Deshalb hatte sie ein seriöses Outfit gewählt, in dem sie sich trotzdem wohlfühlte.
Zu einer schwarzen, blickdichten Strumpfhose trug sie schwarze Halbschuhe. Der Mantel war dunkelgrau, und um für den schneidenden Februarwind gewappnet zu sein, hatte sie sich einen hellgrauen Schal um den Hals geschlungen und eine dunkle Wollmütze aufgesetzt.
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