Julia Extra Band 359
haben und auf dem Markt gefragt sein. Ein Kind an einem großen Flügel, so etwas wollen die Leute natürlich sehen. Aber ich bin aus dieser Rolle herausgewachsen und daher nicht mehr von Interesse.“
„Wer sagt denn so etwas?“ Als sie nur seufzte, meinte er: „Deine Mutter. Na wunderbar. Weißt du was, Noelle? All das, was sie dir je erzählt hat, ist nichts als ein großer Haufen Mist. Aber das ist nur meine Meinung.“
„So einfach ist das nicht. Ich habe ihr wirklich vertraut, mein ganzes Leben lang. Hast du deinem Vater nicht auch ein bisschen zu lange vertraut, als gut gewesen wäre?“
Er verzog den Mund, als er an seinen alten Herrn dachte. „Ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt je vertraut habe. Mir ist nämlich schon ziemlich früh klar geworden, dass er mehr Zeit mit seinen Geliebten verbringt als mit uns. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich gesehen habe, dass eine Frau im Minikleid sein Büro verließ und sich erst vor der Tür die Schuhe anzog. Ich war zwar noch jung, aber dumm war ich nicht.“
„Ethan, das ist …“
Er wollte keine Entschuldigung hören. Nicht von ihr. „Es hat keine Bedeutung“, log er. „Deshalb ist es nur recht und billig, wenn ich endlich die Resorts habe. Man kann Menschen nicht so respektlos behandeln, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.“
Noelle setzte ein falsches Lächeln auf, als ein Gast vorbeiging, dann meinte sie: „Genau dasselbe hat meine Mutter getan. Sie hat mir alles genommen.“
„Dein Talent hat sie dir nicht genommen.“
Erneut wurden sie unterbrochen, weil eine Reihe von Gratulanten und Fans von Noelle zu ihnen traten. Dass ihr Name wieder in der Zeitung stand, hatte in Erinnerung gebracht, dass sie sich so lange zurückgezogen hatte.
Doch sie überspielte das vergangene Jahr mit Bravour und bezeichnete es als Schaffenspause. Auch hierin ähnelte sie seiner Mutter sehr, die ihr Scheitern durch ein strahlendes Lächeln und geschickte kleine Lügen kaschiert hatte – anstatt zuzugeben, dass sie niemand mehr engagieren wollte und dass sie tablettenabhängig war.
Dass es mit Noelles Karriere vorbei war, glaubte er nicht. Sie war schön, und wenn ihre Nerven mitmachten, verzauberte sie die Menge. Wenn sie spielte, schien ihm, als ginge sein Herz auf.
Ihre Musik berührte ihn im Inneren. Und er war sicher nicht der Einzige, der so empfand. Sie hatte etwas ganz Besonderes, das weit über den Reiz hinausging, ein Kind am großen Flügel zu sehen.
Ethan zweifelte nicht daran, dass sie zurückgewinnen könnte, was sie brauchte, um voranzukommen: die Bewunderung der Menschen, ihr Foto in den Magazinen.
Und er würde Grey’s Resorts bekommen und zusehen können, wie die Welt seines Vaters zusammenbrach – so wie die vielen anderen Leben dank Damien Grey zerbrochen waren. Und vielleicht würde er darin auch so etwas wie Befriedigung finden.
Doch all das schien seltsam unwichtig, wenn er an seine Beziehung zu Noelle dachte. An den Kuss.
Bei jeder anderen Frau hätte er diesen Kuss schon längst wieder vergessen. Doch bei Noelle war es anders. Er sehnte sich nach dem nächsten Kuss, mehr noch als nach dem nächsten Atemzug.
Und da der Sinn und Zweck dieser Party war, ihre bevorstehende Hochzeit öffentlich zu machen, wäre es nicht einmal unangemessen, sie in den Garten zu entführen.
Er dachte gerade ernsthaft darüber nach, als Sylvie mit einem viel älteren Mann im Schlepptau wieder auf sie zukam. „Könntest du vielleicht etwas spielen, Noelle? Ich weiß, es ist deine Party, aber ich habe Jacques gerade erzählt, wie umwerfend gut du spielst. Und er hatte noch nie das Vergnügen, dich live zu hören.“
Jacques legte den Kopf schräg. „Ich bin Ihr Fan. Es wäre mir eine große Ehre.“
Aufgeregt sah Noelle zu Ethan hinüber. „Glaubst du, die Band hätte etwas dagegen, wenn ich kurz spiele?“
Ethan schüttelte den Kopf und sah ihr hinterher, wie sie sich durch die Menge schlängelte, ein heller Farbtupfer inmitten des üblichen New Yorker Schwarz. Goldene Haare, helle Haut, rotes Seidenkleid. Ganz Farbe und Licht, unmöglich zu übersehen.
Als sie hinter dem Flügel saß, beherrschte sie die Menge, und alle Augen richteten sich auf sie.
Er hätte schwören können, ihre Fingerspitzen auf seinem Körper zu spüren, als sie ihre Hände auf die Tasten legte. Lange, elegante Finger, welche die Tasten liebkosten. Sie spielte ein Stück, das er schon oft in Kaufhäusern gehört hatte. Vermutlich stammte es von einem
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