Julia Extra Band 359
ihrem viel zu süßen Drink. „Eigentlich sogar ein bisschen langweilig. Aber er ist höflich und gepflegt. Der erste Kerl zählt sowieso nicht. Er ist bloß ein Lückenbüßer, das weiß doch jeder.“
„Ich glaube nicht, dass ich diese Woche Zeit habe“, wehrte Rachel ab.
„Du bist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgegangen.“
Entrüstet erwiderte sie: „Ich bin doch heute gerade erst geschieden worden.“
„Davon hat Matthew sich nicht abhalten lassen“, gab ihre Mutter ironisch zurück.
Heidi versuchte es etwas diplomatischer. „Ihr lebt seit einem Jahr getrennt. Und seit Monaten trägst du deinen Ehering nicht mehr.“
„Vor allem, damit du mich nicht mehr nervst, weil du mir damit ständig in den Ohren gelegen hast“, entgegnete Rachel.
Im Gegensatz zu Heidi war sie nicht der Meinung, dass sie sich sofort wieder mit Männern verabreden sollte. Obwohl sie ihrem Ex nicht mehr nachtrauerte, bedauerte sie das Scheitern ihrer Ehe. Und der Gedanke, sich zu verabreden, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Jetzt betrachtete sie im Spiegel die tiefen Ringe unter ihren Augen. Schon mit Anfang zwanzig hatte Rachel sich bei Dates immer verlegen und unsicher gefühlt. Als geschiedene Zweiunddreißigjährige würde es garantiert nicht besser sein.
Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, ehe sie die dunklen Schatten unter den Augen mit Make-up abdeckte und Mascara auftrug. Wenn sie ihre langen, dichten Wimpern betonte, würde der Rest vielleicht nicht so auffallen. Noch etwas Rouge, und dann fasste sie ihr Haar mit einer Spange zusammen.
Kurz vor acht fuhr sie auf den fast leeren Parkplatz hinter Expressive Gems , ihrem Schmuckgeschäft in der charmanten Innenstadt von Rochester. Rachel verkaufte nicht nur Schmuck, sondern hatte vor fünf Jahren auch angefangen, selbst einige Stücke zu entwerfen. Wenn sie eine Eingebung hatte, konnte sie sich stundenlang in ihre Arbeit vertiefen. Früher einmal hatte sie große Träume gehabt, die während ihrer Ehe mit Matthew allerdings unrealistisch erschienen. Tatsächlich hatte er ihr immer davon abgeraten, diese zu verfolgen. Es hatte ihm ohnehin nicht gefallen, dass sie so viel Zeit in ihrem Geschäft verbrachte. Aber jetzt? Ein neuer Tag, ein neues Kapitel.
Den Mantelkragen hochgeschlagen, eilte Rachel über den Parkplatz. So wie das Laub änderte sich auch das Wetter. Noch eine Woche, dann würden die Bäume in der Straße vor dem Laden in den schönsten Rot- und Orangetönen leuchten. Rachel mochte den Herbst, auch wenn ihr vor dem für Michigan so typischen langen Winter graute.
Vor dem Angestellten-Eingang balancierte sie in der einen Hand ihre Handtasche und den Thermobecher mit Kaffee, während sie mit der anderen die Tür aufschloss und die Alarmanlage ausstellte. Dann knipste sie die Sicherheitslampen aus und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Sofort stieg ihr der intensive Duft nach Rosen in die Nase. Ein üppiger Strauß stand neben den Schauvitrinen im vorderen Teil des Geschäfts. Noch ein oder zwei Tage, dann mussten die Blumen ersetzt werden. Einige fingen schon an zu welken.
Schmuckkauf hatte immer etwas mit Stimmung und Emotionen zu tun. Insbesondere mit Romantik. Rachel unterdrückte das Gefühl von Verrat bei der Erinnerung daran, wie sie Quittungen eines exklusiven Juweliers auf der anderen Seite der Stadt in Matthews Manteltasche gefunden und dadurch seine Untreue entdeckt hatte.
Während sie in dem kleinen Pausenraum des Geschäfts Kaffee kochte, hörte sie ein energisches Klopfen an der Tür. Noch hatte sie nicht geöffnet, aber um zehn sollte ein Bauunternehmer vorbeikommen, der vielleicht früher dran war als geplant. Rachel wollte den Lagerraum über dem Laden in ein kleines Apartment umwandeln. Denn das Haus, das ihr mit Matthew zusammen gehörte, stand zum Verkauf. Und sie wollte ihre Hälfte des Erlöses dazu nutzen, ihm seinen Teil an Expressive Gems abzukaufen.
Sie ging zur Tür, doch nicht der Bauunternehmer stand davor, sondern Tony Salerno. Gegen den feuchtkalten Wind hatte er den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen. Sobald er sie erblickte, lächelte er erfreut. Automatisch erwiderte Rachel sein Lächeln. Er war ihr bester Kunde und daher einer der wenigen, für die sie ihr Geschäft auch früher öffnete.
„Mr Salerno, guten Morgen.“
„Buongiorno, carina.“
Unwillkürlich überlief sie ein Schauer. Tony war nicht nur ihr bester Kunde, sondern auch der mit Abstand attraktivste. Er hatte schwarzes Haar,
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