Julia Extra Band 363
Moment so lange hinausgezögert, aber zukünftig musste sie ihn nicht mehr fürchten. Wie immer das Ergebnis ausfallen würde, wenigstens hatte die Ungewissheit damit ein Ende. Der Gedanke fühlte sich merkwürdig tröstlich an.
„Setzen Sie sich doch, Emma. Es ist schön, Sie wiederzusehen“, begrüßte sie Jenny Bloom, die Mitarbeiterin der medizinischen Beratungsstelle. Aus ihrem schmalen, von einem dunklen Bob umrahmten Gesicht blickte sie Emma aus warmen braunen Augen an.
„Guten Tag, Jenny.“ Emma nahm Platz und holte tief Luft, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen.
„Sie sind ohne Begleitung hier?“
„Ja. Ich möchte zuerst allein und in Ruhe über das Ergebnis nachdenken.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Jenny schob einige Papierstapel auf ihrem Schreibtisch hin und her und zog schließlich einen Umschlag hervor, den sie Emma überreichte. „Möchten Sie, dass ich aus dem Zimmer gehe, während Sie den Befund lesen?“
Emmas Herz klopfte so schnell, dass es in ihren Ohren dröhnte. Wie ferngesteuert streckte sie eine Hand aus und nahm den Umschlag behutsam entgegen.
Sie hielt eine Briefbombe in Händen, die über ihre und Graces Zukunft entscheiden würde, und damit auch über ihre mögliche Zukunft mit Gianni. Wie gerne hätte sie ihn jetzt an ihrer Seite gehabt. Die Erkenntnis traf sie plötzlich und unvorbereitet. Dies hier betraf Gianni ebenso wie sie selbst. Doch die Einsicht kam zu spät.
Sie sah Jenny unverblümt an. „Kennen Sie das Ergebnis?“
Ihr Blick war warm und verständnisvoll. „Ja, ich kenne es.“
Vergeblich suchte Emma in ihrem Gesichtsausdruck nach dem kleinsten Hinweis, doch Jenny hatte ihr Mienenspiel perfekt unter Kontrolle. „Dann würde ich es lieber von Ihnen persönlich hören.“
Jenny nickte. „Die Diagnose liegt uns seit Freitag vor. Wie Sie wissen, liegt bei Huntington-Patienten eine Genmutation vor, die wir daran erkennen können, dass sich eine bestimmte Basenfolge in der DNA, das sogenannte CGA-Triplett, häufiger wiederholt als bei gesunden Menschen. Auf den beiden betroffenen Chromosomen Ihrer Mutter finden sich 17 beziehungsweise 44 Wiederholungen. Ein Wert über 36 gilt als sicherer Nachweis für das Vorliegen des Huntington-Gens und für den unvermeidbaren Ausbruch der Krankheit.“ Sie machte eine Pause. „Nun zu Ihren eigenen Werten. Diese liegen bei 17 und 17, was bedeutet, dass Sie und damit auch Ihre Kinder genetisch gesund sind.“
Eine Welle von Übelkeit stieg in Emma auf und nahm ihr fast den Atem. Sie presste die Lippen fest aufeinander und atmete tief durch die Nase ein und aus, bis ihr Magen sich wieder beruhigt hatte. Genetisch gesund – das bedeutete, dass Grace, das Baby und sie selbst von der grausamen Krankheit verschont bleiben würden. Was für eine wunderbare Nachricht! Trotzdem verspürte sie weder unendliche Erleichterung noch Freude. Stattdessen hatte sie das Gefühl, in einem Meer von Traurigkeit zu versinken.
Sie sah Jenny an und zwang sich zu einem Lächeln. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Der Fluch der Krankheit hatte sie als Einzige aus ihrer Familie verschont, und trotzdem blieb sie in der Sorge um ihre Mutter und ihre Brüder gefangen.
Niemals zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach Gianni, der ihre Hand halten und sie stützen würde. Sie sah, wie sich Jennys Lippen bewegten, doch nur langsam drangen die Laute an ihr Ohr, als befände sie sich unter einer Glasglocke.
„Ihre Reaktion ist absolut in Ordnung, Emma.“ Jenny war voller Mitgefühl. „Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie in Jubel ausbrechen. Sicher sind Sie in Gedanken bei Ihrer Familie. Gibt es wirklich niemanden, den ich anrufen soll?“
Beinahe wäre Emma ein Name über die Lippen geschlüpft, doch dann fiel ihr ein, dass Gianni eine geschäftliche Verabredung hatte. Selbst wenn sie ihn erreichte, wie sollte sie ihm erklären, wo sie war und warum sie ihn nicht gebeten hatte mitzukommen? Erschöpft schloss sie für einen Moment die Augen.
„Ich fahre jetzt zu meinen Eltern“, sagte sie entschlossen.
Als Emma am späten Nachmittag in sein Hotelzimmer zurückkehrte, wusste Gianni sofort, dass etwas vorgefallen war. Offenbar hatte sie eine wichtige Entscheidung getroffen und ihn dabei ausgeschlossen.
Zuerst fürchtete er um das Baby, aber Emma wirkte körperlich gesund und unversehrt. Es musste eine seelische Ursache geben. Sofort fühlte er sich schuldig. Sicher hatte er wieder
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